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berlin bestand damals aus von himmel ausgefüllten zwischenräumen
die durch lange leere straßen verbunden waren
darin nach resten des städtischen zu suchen war ein grund meines
endlosen herumlaufens es mußte doch noch stellen geben die ich mir
als berlin vorstellen konnte
der viermächtestatus der stadt bedeutete die stadt war militarisiert
und das militär war alarmiert ich lief zwischen bewaffneten einheiten
herum besonders den kampfgruppen auf schritt und tritt im weg
mein verhalten war tiergleich auch als einzelner wie eine herde
abwartend nachdrängend war ich zu dicht dran ließ ich mich willig
zurückschicken gespielte unkenntnis geheuchelte einsicht
meine neugier erregte mich oder meine vorsicht keine angst aber
herzklopfen je näher man kam
aufpassen damit ich nicht erwischt wurde mußte ich nicht
mein interesse war demonstrativ nicht konspirativ ich wollte als
beobachter beobachtet werden keine provokation und ich erfüllte
die wichtigste aller voraussetzungen mit freuden ich konnte mich
jederzeit ausweisen es gab meinem dasein seine berechtigung
die lage war gespannt aber auf krieg oder frieden lief sie zunächst
nur in einer hinsicht hinaus in propagandistischer
da die tatsachen jedoch in so augenscheinlichem widerspruch
dazu standen ließ sich der augenzeuge auf die agitation wenn
überhaupt nur ein weil es ihm selten leichter gemacht werden sollte
sie zu widerlegen als in diesem moment
der berliner vom typ her sowieso immer oben uff hatte momente
da es ihm fast keinen spaß mehr zu machen schien so recht hatte er
der ton überlegener nachsicht in den er dann verfiel konnte als
billigend mißverstanden werden du kannst ma bloß noch leid tun
so bekloppt wie du bist
man brauchte sich eine meinung ja auch nicht erst lange zu bilden
nein sie fand pausenlos statt vor der eigenen nase war nicht irgend
jemandes ansicht sondern massenhaftes ereignis
die folge davon war eine art seitenverkehrung oder rollentausch
von subjektiv persönlich und objektiv offiziell bezogen auf die innere
überzeugung und deren äußere kundgabe
die persönliche subjektivität und die offizielle objektivität in
übereinstimmung zu bringen war ziel der propaganda
man hatte der meinung zu sein die man zu haben hatte
das persönliche mehrheitlich übereinstimmend geäußerte erlangte
den rang der objektivität die leute erlebten was passierte
das offizielle davon abweichend in der minderheit stufte sich selbst
zum bloßen subjektiven standpunkt herab
die agitatoren meinten es geschehe was sie behaupteten
der für alle bleibende eindruck war mitten im unfreiesten augenblick
der einer seltenen meinungsfreiheit
fast alles was man noch heute als persönliches erlebnis geschildert
bekommt hat wirklich stattgefunden
und fast alles was offiziell oder objektiv erklärt und behauptet wurde
hat wie sich später herausstellte weder gestimmt noch war es je so
der fall gewesen
gleichzeitig blieb natürlich immer der verdacht der unerfahrene
zuschauer in einem theater zu sein
man glaubte was man sah nahm für bare münze was einem gezeigt
wurde und hatte kein gefühl für das was hinter den kulissen vorging
sobald man bei einem historischen ereignis dabei ist steht auch schon
fest weder was man sieht noch was als historisch gilt ist das was sich
wirklich abspielt
was man geschichte nennt scheint die fälschung ihrer selbst
indem alle ihre fälschungen stattfinden findet sie selbst statt
mitten drin und dabei war man hin und hergerissen alles zerrte an
diesem medialen zustand drängte in den hintergrund die umstände
unter den herumstehenden zu erörtern schob in den vordergrund
es auf eigene faust zu wagen die menge berauschte sich am kollektiven
sachverstand kompensierte damit ihre offensichtliche öffentliche
ohnmacht und geriet in bewegung unmut äußernd bei scheitern
zustimmend wenn es gelang sogar schutz bietend wenn welche sich
zuviel trauten und untertauchen mußten
der einzelne malte sich seine chancen im kopf aus faßte mut
die erregte phantasie potenzierte den heimlichen entschluß zur
tollkühnheit unmöglich länger zu zögern ich versuchs
es gab kühle rechner und fiebernde hitzköpfe in einer person
zu tausenden keiner war ohne absichten witz neben plumpheit
leichtsinn neben verzweiflung
der am meisten geübte ritus lief etwa so ab erstens demonstrativ in
unkenntnis sich der neuen staatsgrenze annähern zweitens die
friedensmaßnahmen mit reglosem gesicht mustern drittens einen
stummen protest spielen viertens zwanghaft nach einer gelegenheit
ausschau halten lauernd abwarten dann fünftens los oder es lassen
immer wieder groß war das staunen wie einfach es ist eine straße
abzusperren und wie unsinnig das verhältnis von aufwand und
notwendigkeit wenn fünfhundert unbewaffnete kein interesse daran
hatten eine aus fünf bewaffneten bestehende straßensperre aus dem
weg zu räumen wozu sperrten die fünf bewaffneten die straße
natürlich gab es die einmischer aufwiegler dazwischengeher
und den homo fanaticus ideologicus auf beiden seiten
mit diesen gab es keine verständigung aber zu allen anderen war
mein zutrauen das des fremden dessen mit dem spracherwerb sich
vollziehende anpassung an die neuen lebensverhältnisse mit dem
allgemeinsten stadtbedürfnis übereinstimmte der berliner schnauze
denn selbst der gerechte volkszorn war nur echt wenn er berlinerte


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017