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es gab drei großberliner verhaltensweisen
die einen standen vor der mauer an der grenze der absperrung dem draht
reglos dem phänomen gegenüber und sahen ungläubig dem werden der
grenze zu
die anderen turbulierten innerhalb des durch die werdende grenze
vorgeschriebenen und beschriebenen raumes und die turbulenz nahm
mit dem wachsen der grenze also mit steigender hermetik ebenso zu
wie die versteinerung der anderen mit zunahme der steinmauer
eine dritte gruppe die weder zusah noch turbulierte ignorierte das ganze
indem sie sich einfach einredete alles sei eine der üblichen geschichten
um berlin wie es sie seit dem berlinultimatum schon mehrfach gegeben
hatte diese gruppe weigerte sich schlicht zu glauben was passiert war
und pflegte schon zum selbstschutz die überzeugung die mauer steht
keine vierzehn tage
zu diesen drei ersten berliner kam noch eine ddr verhaltensweise
die leute von dort die sich die neuen gegebenheiten in berlin weder
vorstellen konnten noch wollten verstanden im prinzip gar nichts
von dem was sie betraf eben weil sie der ansicht waren dies alles
sei eine sache nur der berliner
dennoch zeichneten sich umriss und struktur der vakuole bereits
deutlich sichtbar ab
genaugenommen wurden ja zwei mauern gebaut die erste um westberlin
die zweite um die ddr
die ddr war die vakuole berlin war der kern und der kern war geteilt
und das westberliner kernstück sorgfältig vom ostberliner kernstück
getrennt um jeden unkontrollierten prozess zu verhindern
woraus sich für die leute aus der ddr ergab daß nicht nur westberlin
nicht mehr für sie zu betreten war sondern auch die ddr insgesamt
war für sie nicht mehr zu verlassen und schließlich war ostberlin
für die leute aus der ddr auch nicht ohne weiteres als aufenthaltsort
verfügbar während die ostberliner wenigstens für ausländer und
westdeutsche noch erreichbar blieben


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017