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im anfang gab es weder innen noch außen
aber gewisse kräfte und bedingungen führten in der uneinheitlichkeit
des ganzen zu gegenüberstellungen
diese konfrontationen waren die keimlinien der abgrenzung
es war ein bedürfnis nach unterscheidung in dem ein anderssein sich
vergleichend ausdrückte einem anderssein als widerspruch und gegensatz
zum sosein der anderen
mit der scheidewand zum außen wurde das innen umschrieben und definiert
die bezogenheit aufeinander nahm mit der zunehmenden abtrennung
notwendig zu war gerade bedingung im punkt der vollendeten teilung
hielten beide teile sich für gleich und berechtigt jeder den anderen teil
an dessen stelle zu vertreten
aus einer einzigen aber uneinheitlichen tatsache waren zwei einander
gegensätzliche tatsachen geworden deren gegensätzlichkeit aber erst
recht eine einheit darstellte
auf eine solche höchst dialektische weise und mit begriffen der zellteilung
ließen sich die anfänge der vakuole auch umschreiben
in der propaganda allerdings stellte das innen seine abriegelung
als aufgezwungenen selbstschutz dar während das außen von seiner
eigenen immunität gegen das innen überzeugt dessen ansteckungsgefahr
durch äußere einflüsse verlachte und den beweis der eigenen überlegenheit
mit der grenzschließung als erbracht ansah
die eingeschlossenen spürten die veränderung die stattfand am eigenen
leib der lehrsatz vom sein welches das bewußtsein bestimmt traf plötzlich
nicht nur zu auf sie sondern erwies sich auch noch als wahr nämlich in
seinem gegenteiligen sinn
da gab es die die weg wollten je mehr denen klar wurde wie sehr sie
drinnen waren umso bewußter wurde ihnen daß sie raus mußten
und es gab die die dableiben wollten je bewußter denen wurde daß es
kein draußen mehr für sie gab umso entschiedener beschlossen sie
drinnen sich einzurichten
die die weg wollten reduzierten ihre seinssachverhalte und strebten
das möglichst reine nichtdasein an
die die dableiben wollten paßten alle ihre bewußtseinszustände ihrem
bedürfnis an einfach nur da zu sein und führten ein bewußtloses dasein
der einfachste bewußtseinszustand war die bewußtlosigkeit
je länger die die wegwollten aber noch da waren umso bewußter wurde
ihnen daß es sie eigentlich gar nicht mehr gab
und je länger die die dableiben wollten da waren umso weniger dachten
sie darüber nach warum und wozu sie da waren es gab sie und es gab bald
nur noch sie
plötzlich wurde gebaut für jeden sichtbar nicht mehr wie vorher
nur auf großbaustellen sondern wie selbstverständlich unauffällig
alltäglich überall
nie mehr als eine handvoll leute zwei bis fünf plus bewachung scheinbar
reparaturbrigaden die längst fällige kleinaufträge erledigten
da ein fenster zusetzen hier eine wand einziehen dort eine toreinfahrt
verschalen lust und laune oder fleiß und arbeitswut solcher trupps
hielten sich betont in grenzen das tempo war schleppend weshalb sie
den therapiegruppen der nervenklinik glichen die unter der aufsicht
eines pflegers auf dem gelände der charité tätig waren
es ist zu verwechslungen gekommen
mußte man bisher den ausweis zeigen wurde man nun regelrecht
kontrolliert der staat wurde aktiv der bürger folgte passiv
kontrolliert wurde man beim betreten oder verlassen der charité
kontrolliert werden konnte man auf dem gelände der charité
uniformiert und bewaffnet standen posten vor dem haupteingang
zwischen pathologie und hintereingang geschwulstklinik entlang der
mauer zu alexanderufer und humboldthafen und vor dem eingang
der zahnklinik außerdem fuhren sie patrouille
die anwesenheit bewaffneter organe auf dem territorium einer
medizinischen einrichtung vom rang der charité wurde natürlich als
zumutung empfunden und die kontrolle als belästigung besonders
von den ärzten mit wohnsitz in westberlin als standesbewußtes personal
ließ man sich nur mit dem gefühl der größten verachtung dazu herab
diesen angriff oder diese einmischung hinzunehmen schließlich war man
nicht nur wer sondern es war auch zu sehen und die unnahbarkeit
gehört zum berufsbild
die weiße zunft empfand sich durchaus auch in ihrer berufsbekleidung
den genossen in den kampfanzügen überlegen man ließ als kontrollierter
darum den kontrolleur dessen ohnmacht spüren indem man sich der
kontrolle so unverhältnismäßig oft unterzog durch pausenlos wiederholtes
rein und raus und hin und her bis der kontrolleur aus überdruß oder weil
er den kontrollanten schließlich wiedererkannte die kontrolle von mal
zu mal und dann ganz aussetzte mit diesem verzicht besiegelte er was er
auch mit der kontrolle nicht hatte verhindern können den durchgang
selbst und als solchen nämlich daß man hinein und hinaus konnte nur
um sich kontrollieren zu lassen
die aufgezwungene schikane des staates wandelte sich zur beliebig
abrufbaren dienstleistung für den bürger
anfangs war die charité sperrgebiet später grenzte sie an das grenzgebiet
zu diesem grenzgebiet gehörten die s und fernbahngleise die zwischen
der unterbaumstraße und dem humboldthafen an der westseite der
charité entlangführten außerdem das alexanderufer auf der ostseite des
humboldthafens und die sandkrugbrücke
die reichsbahnstrecke verlief als hochbahn der gleiskörper befand sich
auf einer überführung die bögen des viaduktes waren zum teil ausgebaut
der streckenabschnitt reichte vom bahnhof friedrichstraße bis lehrter
stadtbahnhof
die züge fuhren fast immer schrittempo oder blieben ganz stehen
die s bahn wartete meist auf den gegenzug aus dem westen
die fernbahnzüge hielten weil das signal zur durchfahrt durch den
lehrter stadtbahnhof meist auf rot stand das signal befand sich auf
der brücke direkt über dem südostufer des humboldthafens
die gleise waren bewacht vor dem signal stand ein bewaffneter
doppelposten in den zügen gab es angeblich aufpasser am signal
wurde alsbald ein hundehüttenähnlicher unterstand errichtet
die züge waren fast immer voll besetzt und hell erleuchtet
wir konnten von unten die einzelnen abteile sehen in den heißen
augustnächten waren die fenster heruntergelassen die zugtüren
standen offen manchmal wurde etwas herauf oder heruntergerufen
man roch den westen förmlich


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017