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berlin vermittelt trotz spree und havel vieler kanäle und seen weder
den eindruck am wasser zu liegen noch den eine hafenstadt zu sein
die flüsse und kanäle sind einfach wasserstraßen die häfen
industrieanlagen und die seen ausflugsziele ein hafen mitten in der stadt
ist für berlin insofern typisch als es nichts besonderes ist
bei west und nordhafen einerseits und osthafen andererseits lagen die
dinge aber einfacher als beim humboldthafen weil das hafenbecken
wie auch der berlin spandauer schiffahrtskanal zwischen sandkrugbrücke
und kieler straße zur ostseite gehörten
die schiffe die nach westen wollten fuhren entweder auf der spree am
hafen vorbei weiter stadteinwärts oder sie bogen rechts nach norden
in den humboldthafen ein lagen sie im humboldthafen machten sie
praktisch am westen fest während sie weiter im ostwasser schwammen
die grenze auf der spree am südende des hafens wurde von einem boot
der wasserschutzpolizei markiert dieses oder ein anderes eskortierte
die lastkähne unter der sandkrugbrücke hindurch richtung nordhafen
dieses wachboot wirkte wenn es richtung westen fuhr als hätte es einen
fetten fang gemacht und schleppte ihn ab kam es zurück fehlte
die demonstrative hoheitsgebieterische bugwelle es wirkte irgendwie
erschöpft abgehetzt und ohne beute als hätte es die fährte verloren
der fang war ihm entkommen
am westufer des humboldthafens löschten vor allem stückgut und
schüttgutfrachter südlich der invalidenstraße und dem alexanderufer
direkt gegenüber befand sich ein kohlenlager des westberliner senats
die fetten kokshalden hatten es unseren braunkohlenaugen angetan
begehrlichkeit hat etwas glimmendes
die sandkrugbrücke war der von der charité aus meistgenutzte übergang
personal wie patienten versorgten sich in dem kiosk auf der anderen seite
der invalidenstraße die brücke war besonders von der geschwulstklinik aus
sehr gut einzusehen
auf der westberliner seite standen in einem schilderhäuschen ein zoll und
ein polizeiposten und kontrollierten die fahrzeuge die hinüber und
herüberfuhren außerdem gab es einen britischen militärposten und eine patrouille im jeep
auf der ostseite wurde man zweimal kontrolliert einmal wenn man zur
zahnklinik geschwulstklinik oder ins café dommisch wollte das zweitemal
wollte man über die brücke
das kurze stück gemeinsamen weges welches man mit den westberlinern
lief hinterließ ein so starkes gefühl der unmittelbarkeit und normalität
daß man mühe hatte sich zu lösen und nicht einfach in ihrer gesellschaft mit ihnen weiter und rüber ging


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017