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zu dieser zeit dürfte niemandem in den sinn gekommen sein daß flucht
die daseinsweise der welt war daß seit ihrer entstehung was von ihr
übriggeblieben war materie wie geist auseinanderflog und floh und daß
das leben seit anbeginn auf der flucht wie ein echo sich fortpflanzte
von stern zu stern
ebensowenig dürfte jemand einen gedanken darauf verwandt haben
daß der fluch der flucht auf dem mensch und seinem weib lag alle tage
ihres lebens seit ER sie vertrieb aus dem garten von eden noch daß der
segen der flucht bei ausfahrt der söhne jisraels vom land ägypten das volk
rettete aus der hand pharaos
unwahrscheinlich daß vielmehr als eine handvoll gedachte der flüchtlinge
des krieges und des zerteilten landes oder bedachte die ausflüchte derer
die daran schuld trugen und auch an den folgen
keiner der ahnte wie bald schon eine ganze generation sich aufmachen
würde nachzufliehen den lange zuvor vertrieben geglaubten ideen ihrer
vorfahren und gänzlich unvorstellbar daß wenig später nur deren
nachfahren starten sollten zu dem bisher gewagtesten fluchtversuch
sie verließen die erde und flogen zum mond
in solchen zusammenhängen dachte damals niemand
dann wurde am vierundzwanzigsten august ein junger mann erschossen
der erste mauertote litfin er war bei dem versuch durch den humboldthafen
zu schwimmen entdeckt und getroffen worden und hatte vergeblich
versucht sich an der kaimauer auf westliches gebiet hochzuziehen
die nachricht daß der schußwaffengebrauch nicht nur angedroht sondern
von der schußwaffe tatsächlich gebrauch gemacht und wirklich gezielt
geschossen wurde traf alle wie ein schock
zu fliehen bisher ein weitgehend gefahrloser seinssachverhalt geriet in die
nähe einer ihm fremden und bedrohlichen bewußtseinstatsache
der todesangst
das räumte den fluchtgrund des einzelnen zwar nicht aus konfrontierte
seinen fluchtwillen jedoch mit der diesen abschreckenden todesbereitschaft
während das todesmutige fluchtverhalten der kreatur im allgemeinen
unmittelbar aus der erkannten lebensgefahr resultiert keiner flieht ohne not kehrte
sich im nun eintretenden fall die regel zur ausnahme um
plötzlich begab sich in gefahr wer floh und wer abhaute riskierte sein leben
das war völlig neu damit veränderte das land seinen zustand und der staat
seinen charakter und mit einemmal drängten sich doch zusammenhänge
auf mit einer verdrängten vergangenheit die unabweislich war und zur
auseinandersetzung zwangen statt sich darüber hinwegzusetzen
die gestalt des gemeinwesens glich sich mehr und mehr jenen entwürfen an
wie sie seit platons tagen den utopischen geist plagten und auch die
nervenklinik als vergleichsweise diesseitiger modellfall des jenseitigen
nirgendwo verstaatlichte ihre abseitige wirklichkeit
körper und geist waren hier zwar ohnehin an der flucht gehemmt krankheit
hemmte die einsicht insassenschaft die aussicht doch daß der des lebens
wie der anstalt überdrüssige sich in gefahr brachte davor wurde er rund um
die uhr bewahrt durch ein seine anwesenheit wie seine unversehrtheit
gleichermaßen gewährleistendes unteraufsichtgestelltsein
gelang sein entweichen ihm dennoch und vermeinte er freien willens
und auf sich selbst gestellt zu sein so fand er sich alsbald behördlich
aufgegriffen und unter die gesetzlich verordnete obhut zurückverfrachtet
der sich dabei in den westen verirrende arme volkseigene irre war dem
klassenfeind von gegenüber eine durchaus vertraute erscheinung und ohne
sich beiderseits der grenze lange mit hoheitlichen zuständigkeiten
aufzuhalten gab man den glücklich eingefangenen ausreißer gleichsam
wie eine endlich wieder aufgetauchte fundsache seinem rechtmäßigen
sozialistischen eigentümer zurück ein schulterklopfen und ein halbes pfund
kaffee stellten in solchen fällen ein einvernehmen her welches umstandsloser
nicht zu erreichen und eine rückführung die widerstandsloser nicht zu
bewerkselligen gewesen wäre
anders als vorher aber war der patient nun doppelt gefährdet nicht nur wie
bisher durch sich selbst sondern zusätzlich auch durch die grenze
der patient floh meist nicht um sich das leben zu nehmen er versuchte
zu fliehen oder sich umzubringen plötzlich ergab die verbindung beider
eine dritte möglichkeit man konnte nicht nur erschossen werden man
konnte sich auch erschießen lassen und man konnte die suicidabsicht als fluchtversuch beziehungsweise die fluchtabsicht als suicidversuch tarnen
um bei scheitern des simulierten unternehmens unter berufung auf den
status eines medizinisch anerkannten geistig kranken sich der verurteilung
zu entziehen
die folgen des schußwaffengebrauchs trafen insofern über das ins auge
gefaßte ziel weit hinaus als eine in den einschlägigen systematiken der
psychiatrie nicht beschriebene form des triebtäters auftauchte die des
notorischen republikflüchtlings welcher sein recht auf fortgesetztes
versuchtes verlassen des ihn mit gewalt beherbergen wollenden staates
als narrenfreiheit für sich in anspruch nahm
allerdings nur für kurze zeit dann wandelte das gastliche gemeinwesen
sein sorgerecht in eine einweisungspflicht um erklärte die republikflucht
im mehrfachfall zum anzeichen einer geisteskrankheit und verfügte
deren unbefristete zwangsweise psychiatrische behandlung
dem pflegerischen personal erwuchs daraus eine mehrbelastung die
seine medizinische hauptaufgabe beträchtlich erschwerte ein großteil der
täglichen arbeit bestand nicht mehr nur darin sorge zu tragen daß die
patienten sich nichts antaten und ihre pfleger nicht angriffen sondern
hinzukam die zeitraubende überprüfung ihrer vollzähligkeit
pausenlos wurde nachgezählt einer fehlte immer
die anwesenheitspflicht bei gleichzeitiger geistiger abwesenheit wurde
dem patienten derart aufgenötigt daß sie bald nicht mehr ihm allein
sondern ebensogut dem unmündigen staatsbürger in ihm galt
im lauf der weiteren verfestigung der zustände wurden der selbstmord die republikflucht und der widerstand als versuche sich den neuen
verhältnissen zu entziehen oder diese zu behindern sogar zum moralisch
verwerflichen tun oder strafrechtlich zu ahndenden tatbestand ausgebaut
die beiden letzteren als schwere fälle in den rang des verbrechens erhoben
was einen patienten der nervenklinik nicht davon abhalten konnte
noch zwei tage lang wie gewohnt zu seinen besorgungen nach dem
westen aufzubrechen wie er es fertigbrachte in vollständiger
nervenklinikmontur sich unter die grenzüberschreiter zu mischen
und im pulk unbemerkt mitzumarschieren blieb sein geheimnis
die sache flog auf als die zahl und das benehmen seiner kameraden
die den seitenwechsel von den fenstern aus verfolgten dem
vorgeschobenen posten auf der sandkrugbrücke auffällig wurden
angestachelt vom jubel seiner schaulustigen mitpatienten kehrte er
nach hüben wie drüben grüßend und winkend zurück und wurde
an ort und stelle wegen republikflucht verhaftet
erst nach stundenlangen überprüfungen konnte er von den
grenztruppen ausgelöst werden


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017