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dort wo es keine grenze gibt gibt es auch keine kontrollen wer eine
absperrung errichtet muß ein system des geregelten hinüber und herüber
installieren ein hindernis überwindbar oder umgehbar
zu machen
dies zeigt bereits daß die errichtung der mauer in hohem maße auch ein
demonstrativer akt war der hinweisen sollte darauf daß es die wirklich gab
die keiner als existent anerkennen wollte
es war kein wunder daß dieses aufgestaute potential an demonstrativem
gehabe sich besonders auf die stelle konzentrieren würde die dafür auf grund
des zweckes und der lage prädestiniert erschien das brandenburger tor
ein tor zumal ein stadttor und nun erst recht ein stadttor in einer frisch
errichteten stadtmauer findet darin seine bestimmung oder erhält sie zurück
den einlaß und den auslaß in die besagte und ummauerte stadt zu regeln
das öffnen und das schließen eines stadttores überhaupt der zugänge zu
einer stadt das bestimmen darüber sind reines machtgebaren gestisch
demonstrativ rituelle akte des imponierens genauso wie das verweigern des
einlasses des zutritts obwohl das tor geöffnet ist das machen von ausnahmen
das bevorzugen oder hintanstellen also jede zusätzliche betonung der
einfachen handlung selbst
besonders geeignet war das brandenburger tor für alles demonstrative
seiner lage wegen der standort zwang zur demonstration und jeder vorgang
sollte unter diesen umständen die frisch ertrotzte souverenität unter
beweis stellen
das brandenburger tor stand nicht nur mitten in der stadt bezeichnete nicht
nur selbst diese mitte es stand praktisch direkt an der grenze und es war das
einzige tor zwischen ost und west sowohl in historischer wie in symbolischer
hinsicht
das tor stand im osten und zeigte auch mit seiner vorderseite nach osten
vorn und hinten waren gut zu sehen auch wenn damals die quadriga noch
nicht wieder auf dem tor stand die rückseite des tores zeigte nach westen
kurioserweise hieß nun aber der platz hinter dem brandenburger tor also
auf seiner westlichen rückseite aber noch zum osten gehörig platz vor dem
brandenburger tor logischerweise nicht weil er vor dem tor lag sondern
vorher kam was verständlich ist denn diese richtungsangaben beziehen sich
auf das berliner stadtschloß und der platz der nun wirklich vor dem
brandenburger tor sich befand auf seiner östlichen vorderseite hieß der
pariser platz
die demonstrative ausnutzung dieser besonderheit der seitenverkehrung
oder andersherum die seitenverkehrung die am brandenburger tor
demonstrativ benutzt wurde machte zum großen teil auch seine
besonderheit aus und zwar für beide seiten
das wird verständlich stellt man sich zum beispiel eine besichtigung des
brandenburger tores vor besuche und besichtigungen sind meist auch
etwas das aus sehr demonstrativen gründen geschieht der sogenannte
anlaß ist ebenfalls ein demonstrativ gewählter
diese besuche des brandenburger tores wurden von den politikern
staatsgästen ehrengästen und entsandten delegationen vom zweiten tag
des mauerbaus an praktiziert sie wurden schnell pflichtnummern jedes
besuchsprogramms und gingen auf beiden seiten auf vergleichbare weise
vor sich
auf östlicher seite ging man durch das brandenburger tor stellte sich am
aussichtspunkt auf später eine blumengeschmückte brüstung mit geländer
und schaute über die mauer nach westen
das ergab in der propaganda stets das gleiche bild vorn schräg ein stück
mauer daneben die besichtiger und dahinter das brandenburger tor
rückseite und dahinter ostberlin
auf westlicher seite ging das ganze ähnlich starr vonstatten die besichtiger
fuhren an der mauer vor gingen zu einem aussichtspunkt später eine
plattform sahen auf die rückseite des brandenburger tores und dahinter
den ostteil der stadt
auch dies ergab in der propagandistischen verkürzung das fast selbe bild
vorn schräg ein stück mauer daneben die besichtiger dahinter das
brandenburger tor von hinten und dahinter ostberlin
noch deutlicher wurde die absurdität des demonstrativen wenn der gast
oder besucher auf der westlichen seite eine ansprache hielt die zuhörer
standen dann auf der westberliner seite am tiergarten und auf der straße
des siebzehnten juni der redner stand vor ihnen auf einer art podest oder
tribüne vor der mauer und dahinter wieder rückseite des brandenburger
tores und blick nach ostberlin
der propagandistische oder demonstrative erfolg bestand darin daß sich
beide seiten der osten wie der westen für ihre zwecke die gleiche ansicht
die gleiche darstellung des brandenburger tores zu nutze machten die da
hieß vor dem brandenburger tor und das war falsch denn es war die
rückseite egal ob vom osten aus oder vom westen
fazit den einen war das wahrzeichen wichtiger als die wahrheit und die
anderen konnten die wahrheit nicht zeigen
die vielleicht berühmteste fälschung welche demonstrieren sollte wie die
arbeiterklasse ihren historischen auftrag erfüllt entstand ebenfalls in den
ersten tagen kampfgruppenmitglieder in kampfgruppenuniform im
schulterschluß die waffe in der faust am brandenburger tor scheinbar
das tor bewachend tatsächlich aber hinter der grenzmauer für westliche
und östliche fotografen posierend mit dem gesicht nach westen das tor
und ostberlin im rücken
das war raffiniert welche seite auch fotografierte es ergab immer das von
der östlichen seite oktoyierte bild und genau das war der propagandistische
zweck der demonstrativen übung denn das tor selbst war zu und wer
bewacht ein geschlossenes tor von außen wo er doch selbst drin ist
das foto wurde später ein ikonographischer topos und zum beispiel als
plakat für den ersten mai verwendet da aber schon als fotomontage
das brandenburger tor wurde herumgedreht die kampfgruppen standen
nun wirklich vor dem tor dies war notwendig weil inzwischen
die quadriga auf dem tor stand und der schwindel sonst zu sehen
gewesen wäre
mit der zeit wurde das brandenburger tor immer fotogener eine fahne
mit zirkel und ährenkranz kam darauf und langsam verwandelte sich
das brandenburger tor in eine fata morgana oder utopie die zwei
seiten die östliche vorderseite und die westliche rückseite des tores
setzten sich gewissermaßen im symbolischen fort den einen war das tor
symbol der teilung und den anderen symbol der einheit und beide waren
es zufrieden wegen des fotografischen hintergrundes und der touristischen
attraktion beiderseits
nur als postalische wertzeichen erregten die abbildungen des
brandenburger tores ebenso wie die des reichstages mit der jeweiligen
spalterflagge obenauf noch eine gewisse zeit anstoß was zur folge hatte
daß die beanstandeten sendungen nicht befördert wurden
so war vor die anerkennung der beiden deutschen staaten die
aberkennung ihrer briefmarken gesetzt


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017