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der
bahnhof friedrichstraße reicht von der georgenstraße bis zum
schiffbauerdamm
und erstreckt sich entlang seiner gleise in einer leichten
biegung
seine imponierende eisenkonstruktion überspannt reichstagsufer
und
spree und die straßenunterführung der friedrichstraße läßt diese
zu
einem teil des bahnhofs werden
von den beiden längsseiten wölbt sich die verglasung über die
bahnsteige
die
gleise überqueren und unterqueren in verschiedenen ebenen sowohl
die friedrichstraße als auch die spree die u bahn von kreuzberg nach
wedding
führt direkt unter der friedrichstraße entlang und noch unter der s bahn
die s bahn vom potsdamer platz richtung gesundbrunnen verläuft ebenfalls
unterirdisch die ebertstraße pariser platz unter den linden neustädtische
kirchstraße entlang überkreuzt am bahnhof friedrichstraße die u bahnlinie
unterquert
den weidendamm die spree und führt weiter über tucholskystraße
ecke
oranienburger straße nordbahnhof richtung humboldthain die anderen
drei
s bahngleise wurden als hochbahn über friedrichstraße und spree
geführt
ein
fernbahngleis verlief außerhalb des bahnhofs also vor der verglasung
das
andere durch den bahnhof hindurch
als
innerstädtische fernbahnverbindung über ostbahnhof friedrichstraße
zoologischer garten wannsee wurde diese bahnstrecke nicht nur von den
interzonenzügen befahren sondern auch vom internationalen verkehr nach
osten
und südosten also warschau moskau ebenso wie prag und wien per
karlexexpress
und budapest bukarest per vindobona
der
bahnhof friedrichstraße hatte auf jeder seiner vier seiten mehrere
ein und
ausgänge
man konnte auf der nordwestlichen seite vom schiffbauerdamm
oder
dem reichstagsufer aus die bahnsteige erreichen dann gab es die drei
großen
eingänge auf der wintergartenseite der georgenstraße also
südwestlich
und
es gab ebenso drei große eingänge auf der reichstagsuferseite der
friedrichstraße
also nordöstlich
am
südöstlichen ende direkt unter der unterführung befand sich der
eigentliche
haupteingang wo man von zwei seiten übereck und über zwei
kurze
treppen die schalterhalle des bahnhofs erreichte den eindruck des
haupteinganges
vermittelten die beiden treppen und der umstand daß
praktisch
die meisten passanten die von der straße zum bahnhof wollten
diesen
zugang benutzten
schließlich
gab es in der georgenstraße vor den s bahnbögen noch einen
zugang
einmal zur u bahn und zum anderen die treppe hinauf und über die
friedrichstraße
zu den s bahnsteigen
zusammengefaßt
muß man sich einen bahnhof vorstellen durch den der
verkehr
praktisch in sechs ebenen floss der u bahnverkehr fand in der ersten
ebene
statt der s bahnverkehr unten fand in der zweiten ebene statt der
s bahnverkehr oben und der fernbahnverkehr fanden in der dritten ebene
statt
der schalterhallenverkehr einschließlich geschäfte mitropacafé
und
wechselstube
bildete die vierte ebene der auto bus und sonstige
straßenverkehr
auf der friedrichstraße welche durch den bahnhof lief bildete
die
fünfte ebene und der schiffsverkehr auf der spree in einiger
entfernung
war
durchaus als sechste ebene anzusehen
stellt
man sich unter diesen umständen den gesamten bahnhof als eine
lokomotive
vor so glichen die neuen maßnahmen ungefähr dem versuch
sowohl
den dampfdruck zu vermindern als auch das feuer nicht ganz
ausgehen
zu lassen nur die ventile zuzudrehen die signale auf rot zu stellen
um
gleichzeitig mit neu gestellten weichen die fahrt trotzdem
fortzusetzen
der
versuch den bahnhof friedrichstraße den erfordernissen anzupassen
wie
sie sich aus den getroffenen maßnahmen hinsichtlich reise und
grenzsicherheit
nun ergaben läßt sich in drei phasen unterteilen
die
erste phase reicht vom dreizehnten august bis zum
passierscheinabkommen im dezember dreiundsechzig die zweite phase beschreibt
den zeitraum bis zu den abkommen über die normalisierung
der beziehungen der beiden deutschen staaten ein und zweiundsiebzig
die
dritte phase betrifft die zeit der siebziger jahre danach
eine
übersicht über die jeweils ergriffenen maßnahmen dürfte niemand
besitzen
noch sich vorstellen können die veränderungen welche die
reisenden
mitbekamen betrafen meist details die sich irgendwann
qualitativ
auswirkten aber man kann die veränderung grob so skizzieren
daß
ein eindruck vermittelt wird von der besessenheit mit der der
neuralgische
punkt bahnhof friedrichstraße bearbeitet und behandelt
wurde
in
der ersten phase wurden die zunächst einfach nur bewachten ein und
ausgänge
aller ebenen einer schließlich lückenlosen absperrung unterzogen
der bahnhof blieb in seiner struktur erhalten nur kam eben jeder nur an die
stelle zu der ihn die kontrollen vorliessen der zunächst einzige unterschied
die züge fuhren nicht mehr durch alles endete oder begann bahnhof friedrichstraße
die züge aus und in richtung westen verkehrten dabei
scheinbar weiter ganz normal man hörte die lautsprecherdurchsagen las auf
den schildern wohin die züge fuhren sah die fahrgäste zum greifen nah und
war doch abgetrennt man hatte den eindruck daß dies alles nur den osten
betraf der westen blieb irgendwie merkwürdig unberührt davon daß das gleis
gegenüber plötzlich drüben war
über den hinteren ausgang in fahrtrichtung westen hinaus durfte man den bahnsteig
nicht betreten oder einsehen wollte man doch passieren mußte
man
sich ausweisen und angeben wohin man wollte eine ganze weile noch
fuhren
die ostzüge leer weiter in richtung lehrter stadtbahnhof und kamen
auf
dem gegengleis zurück
der
ganze trubel der ersten tage entstand allerdings nicht unmittelbar
wegen
der maßnahmen selbst sondern auf grund eines untauglichen
abfertigungssystems
die ratlos umherirrenden schiebenden drängenden
sich
stauenden reisenden machten das treiben immer verrückter weil sie
beim
kauf einer s bahnfahrkarte beim knipsen später lochen derselben und
beim
wiederabgeben der s bahnfahrkarte jedesmal in einer schlange
anstehen
mußten
in
der zweiten phase wurde das system der ein und ausreise auf eine
sozialistische
grundlage gestellt eine neu errichtete einundausreisehalle
zentralisierte die prozedur im gesamten bahnhof galt das prinzip der
strikten
ost west teilung es gab ab da eine westseite des ostens und eine
ostseite des westens im selben bahnhof
in der dritten phase mußte dann noch einmal das abfertigungssystem
den gestiegenen ansprüchen angepasst werden weil die westreisenden
rentner ab friedrichstraße die fernbahn benutzten und allmählich
verwandelte sich der bahnhof von einem verkehrsknotenpunkt in einen
grenzübergang was bedeutete zu einem systematisch in verwirrung
stürzenden abbild der gedankengänge jener die die grenze gezogen
hatten
aber wenn auch später das gesamte objekt mutierte in den ersten tagen
und wochen nach dem bau der mauer wirkte der bahnhof eher wie eine
zukünftige
baustelle die dem großstädtischen gewohnheitstier plötzlich
und
offenbar für länger den weg versperrte man trug den neuen tatsachen
rechnung
aber selbst überraschungen brachten einen nicht aus dem trott
zumal
alle absperrungen noch lange zeit sehr provisorisch wirkten sich
scheinbar
der öffentlichkeit anpassten und die einschränkungen im
alltagsbetrieb
verkraftbar blieben die hermetik schien durchsichtig
und
der
eiserne vorhang hatte noch löcher
ansonsten
aber blieb alles beim alten so hieß es und genau dieser eindruck
ein
paar harmloser maßnahmen bei im übrigen fortbestehender normalität
verursachte
in seiner absichtlichen zwiespältigkeit ein durcheinander aus
konfusion
konspiration transaktion und observation welches allmählich die
entstehung einer neuen ordnung bewirkte fast ging es zu wie bei einem
siebentagewerk denn als sich die ein von der ausreise reinlich
geschieden
hatte
wie der tag von der nacht und das hüben vom drüben wie das licht
von
der finsternis da war aus dem ganzen etwas noch prächtigeres
entstanden
als vorher war kein einfacher bahnhof mehr zum ankommen
und
abfahren sondern eine art empfängnisvorrichtung und
ausscheidungsorgan
in einem in sich geschlossen wie die vakuole ddr oder
ihr
geteilter kern berlin ein drittes miniaturparadies im paradies im
paradies
gewissermaßen
und gleichzeitig der körperteil der bei sehr einfachen
lebewesen
für das ausstoßen unbrauchbarer reste und bei nicht ganz so
primitiven auch noch für die empfängnis oder fortpflanzung
zuständig ist
und
der seine verschiedenen bezeichnungen von den wechselnden
funktionen
herleitet eigentlich aber nur einen namen hat
die
anziehung die der bahnhof friedrichstraße die zeit der mauer über
ausüben
sollte stammte zum teil aus der anrüchigkeit wie sie orte mit
solcher
funktion auszeichnet der bahnhof friedrichstraße wurde zum
alpha
und omega einer zu erfahrenden ddr
nun
sind anfang und ende zwar in eins verstrickt aber eben nicht auf dem
kürzesten
weg eben wegen der zu machenden erfahrung sondern
irreführend
voller hindernisse weshalb im bahnhof friedrichstraße die
beiden
halbwelten durch ein labyrinth verbunden wurden das alpha des
labyrinths
war die ostseite des westens und das omega die westseite des
ostens
das war im grunde zwar ein und dasselbe aber eben das war ja
das
labyrinth es hat späterhin genug ddr besucher gegeben deren
ddr
erfahrung nicht weiter reichte als bis zum bahnhof friedrichstraße
und
dem versuch sich dort zurecht zu finden
alle
besonderheiten des bahnhofs friedrichstraße fanden aber ihre
erklärung
in seiner lage denn der bahnhof war gar kein übergang
weil
er nicht an der grenze lag sondern in ostberlin selbst es war ein
vom
osten eingerichteter von diesem kontrollierter von beiden
seiten
in beide richtungen genutzter brückenkopf
so
gehörte zum beispiel die u bahn dem westberliner senat die s bahn
zur
reichsbahn und diese zur ddr der bahnhof war darum was seinen
westteil
auf ostgebiet betraf genauso ringsherum abgesperrt wie ganz
westberlin
das auf dem territorium der ddr lag und was seinen
ostteil
anging so stand dieser in der gleichen verbindung mit ostberlin
wie
dieses mit der übrigen ddr
daraus
folgte nun auf die dauer daß an der friedrichstraße sich die
berliner
konstellation im kleineren oder bahnhofsformat wiederholte
denn
was auch immer in den nun vielen folgenden jahren zwischen
den
beiden deutschen staaten beziehungsweise der ddr und westberlin
sich
ereignen sollte irgendwie spielte sich das nocheinmal ab irgendwo
im
bahnhof friedrichstraße und das chaos der ersten tage fand auch
deshalb
hier statt weil es gar keinen anderen ort gab der dafür geeignet
genug
gewesen wäre es zu veranstalten
als
wäre der bahnhof friedrichstraße soetwas wie ein gigantischer
menschenansauger
gewesen so sog er wie durch ein saugrohr den
westen
ein presste ihn durch den filter der grenzkontrollen während der
osten
das saugrohr verstopfte so quoll der westen aus allen löchern und
der
osten füllte den bahnhof prall wie einen blindsack oder staubbeutel
die
friedrichstraße damm wie trottoir sämtliche freien plätze vor
allen
vier
seiten des bahnhofs sämtliche aus und eingänge sämtliche treppen
schalter
türen alle hallen und bahnsteige waren voller menschen
die
s bahnen und u bahnen die omnibusse die toiletten im keller des
bahnhofs
die wechselstube in der vorderen halle die auskunft in der
hinteren
schalterhalle das mitropacafé die imbissstube daneben die
spätverkaufsstelle
unter der unterführung die post mit sämtlichen
telefonzellen
und telegraphenschaltern das pressecafé und seine
drehtür
die unterführung und die angrenzenden nebenstraßen und vor
allem
alles was nach einer kneipe aussah alles war überfüllt von menschen
ostberliner
westberliner ostdeutsche westdeutsche osteuropäer
westeuropäer
gastarbeiter touristen von allen kontinenten in ostberlin
akkreditierte
ausländer und agenten aller geheimdienste der welt
die
reisenden aus der ddr hatten sich von schönefeld nach schöneweide
von
dort zum ostbahnhof von dem zum alexanderplatz und vom
alexanderplatz
zum bahnhof friedrichstraße durchgekämpft und standen
nun auf dem bahnhof wie bestellt und nicht abgeholt einzeln paarweise in
gruppen
mit und ohne gepäck hungrig durstig übermüdet ungewaschen und verschwitzt
aufgebracht gereizt apathisch verzweifelt bildeten
sie den hauptteil der großen
konfusion
offenbar
gibt es mindestens zwei arten der fassungslosigkeit die eine will
oder
kann nicht verstehen die andere will oder kann nicht wahrhaben
letztere
schien die meisten am bahnhof friedrichstraße eintreffenden
ddr
reisenden befallen zu haben
viele
waren am sonnabend abend losgefahren um sonntag früh in berlin
zu
sein und trafen zu spät ein und wußten von nichts viele waren am
sonntag
sehr früh losgefahren um im lauf des tages da zu sein auch sie
waren
zu spät glaubten das aber nicht weil es unvorstellbar war obwohl
sie
die nachricht kannten und viele die die nachricht kannten fuhren
gerade
deswegen und trotzdem erst recht auch noch in den nächsten
tagen
los in der wahnhaften einbildung daß gerade dadurch die lage sich
noch
einmal ändern würde sie waren meistens ortsfremd und
unentschlossen
sie hielten den betrieb auf und dieser aufgehaltene
betrieb
nahm auf dem bahnhof den charakter einer turbulierenden
reglosigkeit
an es ging weder vor noch zurück aber das ständig
im kreis
vergleichbar
vielleicht einer herde die sich nicht von der stelle rührt
in
derem inneren aber ein ständiges drängeln herrscht um den besten
platz
auf dem man sich nicht von der stelle rührt
zur
großen konfusion ebenfalls angemessen bei trugen die westdeutschen
berlinbesucher
und die ausländischen touristen man befand sich zumeist
auf
urlaubsreise und besichtigte die stadt man hatte die nacht verbracht
wie
man derlei zu tun pflegt in einer großstadt man war ausgeschlafen
die
morgentoilette und das ausgiebige frühstück lagen hinter einem
nun
erfuhr man
kurz bevor man den reisebus in den ostsektor besteigen
wollte
daß man sich mitten in ein historisches ereignis begeben sollte
wer
da aus dem bundesgebiet ohnehin mit vorurteilen oder bedenken
angereist
war verzichtete dankend wer es aber bisher schon kaum
hatte
erwarten können die kommunisten von nahem zu sehen der war
erst
recht nicht mehr zu halten der ausländische gast hingegen schien es
sich
in keinem fall nehmen zu lassen daß gebuchte programm zu
absolvieren
so genau war er mit den verhältnissen weder vertraut noch
an
ihnen interessiert und etwas aufregendes etwas spannung
überraschung
unvorhergesehens gehörten schließlich dazu wenn man
auf
reisen war versorgt
mit guten ratschlägen und warnenden hinweisen
fuhr
man also hinüber
die
prozedur des überquerens der sektorengrenze ließen
die einen
amüsiert
befremdet über sich ergehen die
anderen nahmen sie zum
willkommenen
anlaß sich mit gesinnung zu wappnen und die freiheitlich
gewölbte
brust herauszudrücken
wenn man schon als kriegsbrandstifter
und
klassenfeind betrachtet wurde wollte man bei bedarf auch die
ideologischen
zähne zeigen das war man den brüdern und schwestern
im
osten schuldig aber drei schritte weiter war
man von der allseits
waltenden
absurdität des faktischen dahingerafft der beobachter selbst
zur
tatsache geworden sah
nichts mehr
die
fasungslosigkeit der zweiten art erfasste die hochgewachsenen
eleganten
vertreter der bourgeoisie sie
begriffen und verstanden nichts
und
das obwohl sie ganz gegen ihre gewohnheit es gewollt hätten
man
versuchte sich rauszuhalten abstand zu wahren einander weiter
und
wegzuziehen gut betucht wie man war solidarisierte man sich nicht
dem vornehmen ist jede verbrüderung suspekt und feine leute bestehen
auf ihrer fremdheit aber es gelang nicht gewollt ungewollt wurden sie ein
teil der masse des ganzen ohne ausnahme nicht zu unterscheiden mußten
sie sich verhalten und wurden behandelt wie alle die anderen und kamen
sich aufeinmal selbst wie die ddr reisenden vor das war entwürdigend
und eine zumutung denn sie waren in einer welt die nicht die ihre war
dagegen sträubten sie sich und wenn es ihnen gelungen war sich etwas
luft zu verschaffen geschah es daß man sie plötzlich als welche von drüben
erkannte die menge teilte sich machte platz staunte sie an und beneidete
sie und die gegenseitige verlegenheit ausnützend wurde mancher sogar
und wenn auch nur im scherz richtig angehauen wenigstens ein paar
zigaretten dazulassen oder westgeld manchmal klappte das manchmal
löste das empörung aus aber meist ging es im gelächter unter nur wenn
man glück hatte und auf den richtigen traf kam man ins gespräch
der ließ sich herab zuzuhören stellte fragen alles wurde ihm aufeinmal
erklärt und im nächsten augenblick war man sich so einig daß alle
konfusion überwunden schien
gegenüber den reisenden aus der ddr und den schaulustigen aus aller
welt waren am bahnhof friedrichstraße sowohl die berliner als auch
die organe der sicherheit und die gastarbeiter aus den
tauschhandelsländern glatt in der unterzahl mehr oder weniger durch
nichts zu erschüttern bahnte sich der geborene waschecht unaufgeregt
seinen weg durch die große verwirrung gekonnt wich er dem gedränge aus
mied er zweifelhafte ansammlungen wählte abkürzungen bevorzugte
schleichwege wußte was wann wohin fuhr wie man zu fuß schneller
vorankam ob es sich zu warten lohnte und vielleicht noch hintertürchen
offen standen
viele berliner waren am dreizehnten august gar nicht in berlin gewesen
sondern an der ostsee oder im grünen nun kamen sie langsam zurück
und wer noch nicht abgehauen war oder nicht abhauen konnte oder
wollte oder es bereits aufgegeben hatte abzuhauen der mußte nach dem
ersten schock sehen wo er blieb das leben ging obwohl es viele nicht für
möglich hielten auch diesmal weiter außer denen die noch dawaren
waren alle anderen entweder bereits weg oder noch nicht zurück
allein das rauszubekommen nahm tage und wochen in anspruch in
manchen fällen leider auch monate und jahre jedenfalls hatte der
berliner andere sorgen als sich am bahnhof friedrichstraße ins gewühl
zu stürzen und sein diesbezügliches mißfallen äußerte er bei jeder
passenden und unpassenden gelegenheit laut und deutlich mit einem wort
der berliner war in diesen tagen wieder mal gezwungen zu improvisieren
und wenn er etwas liebte dann das
am bahnhof friedrichstraße herrschte die observierte unübersichtlichkeit
alles was in diesem milieu gedieh fühlte sich hingezogen es wurde
geschmuggelt in den zügen die von prag oder warschau zum zoo fuhren
meist tschechisches bier polnischer schnaps natürlich zigaretten es wurde
geschmuggelt auf den westbahnsteigen alles da für westberliner praktisch
zollfreies gebiet
es wurde geschmuggelt in den cafés und auf den toiletten meist westgeld
und es wurden geschmuggelt vor hinter und um den bahnhof herum all
die ostwaren mit denen sich eine weile noch etwas verdienen ließ
während die prostitution am oranienburger tor in der oranienburger und linienstraße
zum erliegen kam blühte sie am bahnhof richtiggehend auf
die kunden der mädchen waren fast ausschließlich gastarbeiter gezahlt
wurde in west und in naturalien strumpfhosen zigaretten als die freier
nicht mehr bleiben konnten solange sie wollten weil der tagesaufenthalt
begrenzt wurde reisten sie vierundzwanzig uhr aus und null uhr wieder ein
es wurde geschleust alles was die dienste zu schleusen hatten mitarbeiter
und material über spezielle zugänge das traf im besonderen fall auch auf
den lastkahnverkehr auf der spree zu von den kähnen wurden bei bedarf
ganze ladungen gelöscht die vom interzonenhandel ausgeschlossen
waren oder auf sonstigen embargolisten standen besonders die bahnsteige
in den untergeschossen wurden treffpunkte und übergabeorte aber auch
fallen das gesamte bahnhofspersonal setzte sich aus angehörigen und
informanten zusammen die reichsbahnbediensteten die auf den
westbahnhöfen oder in den im westen verkehrenden s bahnzügen dienst
taten standen unter besonderer betreuung der sicherheit die toiletten
das café die wechselstube die gepäckaufbewahrung alles wurde überwacht
und wenn man einen der unsichtbaren drähte auslöste dann ging ein
lauscher hoch oder ein dienstauge wurde wachsam man bekam einen
zweiten schatten oder machte eine ungewollte bekanntschaft die sich mit
einem recht gern bald wieder mal so nett unterhalten wollte also spitzel
schnüffler und anbiederer überall und auch draußen um den bahnhof
jede menge helfer zur stelle denn vor allem war der bahnhof der größte
private treffpunkt der ganzen vakuole
daß man nicht mehr freizügig war das war schlimm genug für die meisten
noch schwerer wog daß sie nicht nur von angehörigen und freunden
sondern von ihrem gesamten umfeld ihrer persönlichen infrastruktur
abgeschnitten waren viele lebten im westen und wohnten nur im osten
viele hatten geld und wertsachen in westberlin liegen nicht wenige
studierten an westberliner hochschulen und der freien universität sehr
viele arbeiteten als grenzgänger und waren plötzlich ohne arbeit und lohn
viele leute waren auch liiert also verlobt verheiratet man hatte geschiedene
frauen im osten oder unterhaltspflichtige kinder personenstandsurkunden mußten
beigebracht konten umgeschrieben bargeld und sachleistungen
befördert werden alles konspirativ
dazu kamen die ost und westgrundstücke mit den jeweiligen eigentümern
auf der anderen seite unzählige vermögens und nutzungsrechte die wahrzunehmen
nicht mehr möglich war unzählige vollmachten und verpflichtungserklärungen die
heimlich aufgesetzt wurden nicht zu
vergessen das hab und gut die unzähligen persönliche gegenstände
welche kurzentschlossene und gelegenheitsflüchtlinge zurückgelassen
hatten auch dies wollte irgendwie ohne das jemand etwas merkte nach
drüben geschafft werden der nachträgliche wohnungstausch spielte
keine kleine rolle das unter den nagel reißen war gang und gäbe
vor allem aber wurden fluchten organisiert die wörter fluchthilfe und
fluchthelfer tauchten auf der erste kontakt die weiteren informationen
die entscheidenden details waren ohne den bahnhof friedrichstraße
nicht zu organisieren scheinbar war es das bequemste oder fiel dort
im einzelnen nicht auf was tausendfach stattfand
das faszinierende waren aber nicht nur die jeweiligen aktivitäten
sondern deren nicht zu durchschauendes aber fühlbares
feingesponnenes zusammenspiel es machte die eigentliche
anziehungskraft dieses schauplatzes aus dieser bahnhof nahm auf und
entließ eine unzahl zielstrebiger rascher eiliger hilfloser zögernder
suchender umherirrender panischer hektischer atemloser
zuspätkommender reglos wartender versetzter auftauchender
verschwindender und versteck spielender menschen die sich pausenlos
auffallend unauffällig begrüßten verabschiedeten stehenblieben
weitergingen unbeteiligt taten aneinander vorbeisahen blickkontakt
suchten und kam etwas dazwischen und bemühte sich jemand um ihre
bekanntschaft so taten als hätte man sie verwechselt und alles nur zufall
draußen aber spiegelte sich das licht in den pfützen auf dem aspahlt denn
die stadtreinigung fuhr regelmäßig mit sprengwagen vorüber das wasser
war parfümiert ohne abzureißen preßte sich der verkehr in beiden
richtungen unter der unterführung durch rasselte und rummelte der
s und u bahnverkehr hüllten die lokomotiven des fernverkehrs die
bahnhofshalle und den himmel mit wolken ein rannte unaufhörlich am
laufenden band die leuchtschriftzeile von rechts nach links und tickerte
die neuesten nachrichten verpesteten die doppelstockbusse alles mit
auspuffgas riefen die zeitungsverkäufer die bz am abend aus wurde gehupt
gerufen gewunken klangen die lautsprecherdurchsagen von den
bahnsteigen und an allem haftete damals außerdem der duft der großen
weiten welt denn alles rauchte peter stuyvesant und der bahnhof
friedrichstraße blieb die nächsten achtundzwanzig jahre der ort
wo es immer sowohl nach west als auch nach ost stank