beruf

während seines sozialen daseins durchläuft das der mensch genannte
ensemble gesellschaftlicher verhältnisse nicht nur eine beträchtliche 
anzahl derselben sondern die meisten davon stehen auch schon vorher 
fest eine fertig gefügte reihe erwartet ihn damit nicht nur das leben 
insgesamt als eine einrichtung erscheint sondern auch jeder seiner 
abschnitte so wird das leben zu einer verläßlichen institution und sorgt 
dafür daß man sich darin nicht nur möglichst bequem einrichtet sondern 
daß des lebens verlauf im weiteren auch für alle möglichst die gleiche eine 
richtung nimmt denn daß die an den kreuzwegen des lebens 
unvermeidlichen entscheidungen welche über die richtung zu treffende 
wären diese illusion gehört zum sinn und zweck eben dieser einrichtungen
in wirklichkeit geht es zu wie bei der ziehung einer lotterie alles ist zufall
und glücksache nur eben unter der aufsicht vereidigter sachverständiger
selbst wenn diese die wahl hätten änderte sich nichts aber der sich da 
entscheiden soll weiß eigentlich gar nicht so genau was er will will es auch
gar nicht wissen und also überläßt er die entscheidung eben nicht dem 
leben sondern dessen einrichtungen und hält im weiteren wozu er sich 
aufmacht als den marsch durch diese dann für jenes
das trifft nun im besonderen maße auf die berufswahl zu weil durch diese
man das wesen der sozialen verhältnisse berührt also den gesellschaftlichen
arbeitsprozess und eine von dessen vielen seiten gewissermaßen zu einer
seines eigenen wesens macht die zu treffende erst recht aber die getroffene
entscheidung löst eine kettenreaktion von zuständigkeiten und 
unzuständigkeiten aus und unter aufbietung eines kaum zu 
durchschauenden spiels von abwägungen voraussichtlichkeiten und 
rücksichtnahmen verfrachtet einen eine institution zur nächsten bis der 
anwärter auf dem posten landet auf den ihn die gesellschaft gestellt haben 
will und wo er ab da stehen zu bleiben hat um seinen mann zu stehen 
berufswahl also ist platzwahl und in den meisten fällen handelt es sich bei 
den zur verfügung stehenden plätzen um stehplätze nach den plätzen für 
das medizinstudium wurde im wahrsten sinn des wortes angestanden
es kam nicht selten vor daß der bewerber für einen solchen studienplatz
nicht nur ein praktisches jahr sondern auch zwei in kauf nahm oder den 
weg über eine krankenpflegeausbildung ging eine andere variante war
daß man nach dem abitur gleich freiwillig sich zur armee meldete nach 
drei jahren auf zeit war der studienplatz in der regel sicher 
der grund für die enorme nachfrage war daß das medizinstudium als 
weitestgehend ideologiefrei und unpolitisch galt der studienabschluß 
und die approbation im westen anerkannt wurden und der arztberuf 
in jener zeit eine geradezu abgöttische reputatuion genoß der herr doktor 
und später die handwerker stiegen zu den gottähnlichen im lande auf 
die begehrtesten studienplätze waren die in berlin aber auch an den 
universitäten von jena leipzig halle und rostock sowie den medizinischen 
akademien in dresden und magdeburg war der andrang nicht geringer
medizin studieren zu können galt eindeutig als privileg und wurde auch
so gehandelt nicht selten erkauften angesehene wissenschaftler und 
niedergelassene ärzte ihr bleiben mit der studienplatzgarantie für ihre
kinder 
arzt war das optimum einer bürgerlichen lebenserwartung 
in der ddr und vielleicht entsprach das gesundheitswesen noch am 
ehesten der vorstellung wie sie der bürgerliche mensch vom leben 
als seiner einrichtung zu haben pflegt dienender humanismus ethos
von beruf und berufung akademischer habitus behördengleiche 
hierarchie und laufbahn kodex von dienstvorschriften etikette der 
amts und standesperson  kulturanspruch als pflicht und bedürfnis
all dies nicht als eigenleistung keine eigenschaften die aus eigenem 
man erschafft sondern die man annimmt sich aneignet erwirbt damit
ausgestattet wird ganz wie bei militär kirche staat ordensgemeinschaft
und doch anders weniger festgelegt offener eben bürgerlicher
das kommt besonders dem jungen menschen sehr entgegen der sich 
gern kostümiert verkleidet eine rolle spielt jemand anderes sein wil
irgendwo drin sein möchte zu einer gruppe gehörig er nimmt gang 
bewegung verhalten sprechweise denkart seiner neuen umgebung an 
unterwirft sich der rangordnung und dem regelwerk der neuen 
gemeinschaft und identifiziert sich  infiziert sich mit der identität der 
einrichtung die die eine richtung für alle vorgibt 
es lief eine hauptallee direkt auf die nervenklinik zu ihre imposante 
vorderseite stufen führten hinauf zum portal wilder roter wein bewuchs
die fassade hohe kastanienbäume standen vor dunklen ernsten fenstern 
der bau wirkte klinisch unausweichlich an sanatorium oder heilanstalt
war nicht zu denken sein anblick vermittelte nicht den eindruck geistiger
größe sondern den der schwere seiner verwirrtheit ging man auf der linken
seite um das gebäude herum kam man an einer langen mauer mit einem
großen tor vorbei hinter dem ein trostloser garten lag da konnte es 
passieren daß unverhofft etwas über die mauer flog eine kristallkugel die als
dotter in einem glühenden ei steckte auf der rückseite standen zwei kleine
villenartige gartenhäuser durch kurze gänge mit den seitenflügeln des 
hinterhauses verbunden die fenster waren vergittert und sahen kaum über 
die gartenmauer von dort drangen oft schreie nach außen wie man sie aus 
zoologischen gärten kennt
überzeugt die hilfspflegerposition auf der untersten stufe der hierarchie 
als uns adelnde probezeit locker zu bestehen begaben wir vorpraktikanten
uns voller neugier in das labyrinthene gehege der psychiatrie um sofort 
und ziemlich unsanft mit drei tatsachen konfrontiert zu werden 
erstens daß wir es in diesem sogenannten gesundheitswesen mit allem 
anderen zu tun hatten als mit gesundheit nämlich dem genauen gegenteil   
zweitens daß die einrichtung des gesundheitswesens in der wir uns 
befanden eine geschlossene anstalt war und damit eine miniatur des
staates mit dem patienten mensch im mittelpunkt und alle alle verrückt
drittens daß wir egal ob verrückt oder nicht verrückt in jedem fall selbst
auch insassen waren und zwar von beidem des staates wie der anstalt
und als gegenstand der einrichtung als inhalt als inventar angesehen 
und behandelt wurden was bei mir statt zur anpassung unweigerlich 
zu einer widersprüchlichen gegenreaktion führte nämlich zur 
aufrichtung einer fiktion des außerhalbseins des abstandhaltens statt
bestandteil zu sein die lebensnotwendig werden sollte für mich als keim 
meiner identität und merkmal des schöpferischen 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017