charité

der haupteingang das pförtnerhaus mit der auskunft das große tor die hin 
und herfahrenden krankenwagen die beleuchteten rotkreuzzeichen das
verwaltungsgebäude sein turmrundes treppenhaus die anmeldung das 
alles sah sehr nach krankenhaus aus und das backsteinrot der ziegel das 
schiefergrau der dächer das efeu und weinlaub der fassaden die hohen  
fenster und der märkisch neogotische stil verstärkten diesen eindruck
befand man sich innerhalb des geländes zwischen den mächtigen 
einander gleichenden klinikkomplexen verlor sich der eindruck wieder
man glaubte sich eher auf einem campus oder in einem akademischen
bezirk inmitten einer universitären forschungseinrichtung wo das 
kranksein nicht mehr nur leiden bedeutete sondern einem höheren 
wissenschaftlichen zweck diente
charité das war eine adresse für das kranksein so gut wie das adlon für
gesunde tage wenn schon denn schon das französische charité unterstrich
die auserwähltheit man fühlte sich geehrt und da die charité eben auch 
die medizinische fakultät der humboldtuniversität zu berlin war und die 
ganze medizinische lehranstalt  nichts ohne versuchskaninchen so war 
der patient sich seines wertes wohl bewußt beweis dafür war der 
umgangston zwischen arzt und patient der sich in nichts unterschied
von dem wie er insgesamt in der stadt herrschte 
kam aber eine schar weißgekleideter schwestern daher glaubte man 
nonnen zu sehen der pulk der assistenzärztlichen flatterkittel glich 
dem eiliger mönchssoutanen die professoren umgaben sich mit 
oberärzten wie kardinäle mit ihren bischöfen und wenn dann noch
ein leibhaftiger ecce homo auf einer fahrbaren tragbahre öffentlich 
in den nächsten hörsaal überführt wurde wie eine reliquie in einer
prozession sterblicher beweis einer unsterblichen lehrmeinung 
fühlte man sich plötzlich wie der novize auf probe in einer 
klösterlichen gemeinschaft


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017