insassen

die geduldig einsitzenden duldeten vielleicht mehr als sie selbst geduldig
waren sie duldeten die einrichtung die umgebung und die gegenstände
sie erduldeten dies alles und wir pflegekräfte waren bestenfalls geduldet
die insassen die lange genug einsassen hatten sich alles was sie betraf
zurechtgesessen sie sassen darin wie in einem gestühl das als eingesessen
gilt wenn es die form des hinterteils seines besitzers angenommen hat
insasse zu sein bedeutete aber auch ansässig zu sein vielleicht nur 
vorübergehend für die meisten aber doch im sinn von alteingesessen 
sie hatten sich ihren anspruch auf dauer mit der zeit ersessen 
das besondere ihres einsitzens war daß sie trotz des gegenteiligen 
anscheins aber eben doch nicht nur so dasaßen sondern ihr dasein war
ausgefüllt davon dieses erfüllte einfache dasitzen konnte als ihr 
anwesendsein bezeichnet werden anwesend zu sein und gleichzeitig 
abwesend zu sein ganz wo anders zu sein das war ihre daseinsweise 
ihr leben verlief aufgeteilt als spalt zwischen sich hüteten sie sich vor ihm
es wäre ein abgrund gewesen worein sie stürzten die schizophrenie hielt
sie über der tiefe in schwebe 
das läßt sich am leichtesten oder einleuchtendsten vergleichen mit einer
kirche die institution und interieur zugleich ist und deren insassen ja 
nicht die gläubigen sind sondern die heiligen anwesend in stein holz oder 
ölfarbe als märtyrer mit aufgemalten wunden wurmstichige apostel oder 
verrußte patriarchenporträts und gleichzeitig abwesend in himmlischer
verklärtheit ekstatisch entrückt oder unnahbar erhoben und tatsächlich 
gleicht das innere einer kirche in manchem dem inneren einer 
psychiatrischen anstalt versteinte gebärden erstarrte grimassen verzückte
mienen entrückte blicke zum himmel droben seltsam verdrehte köpfe 
und hälse gebeugte nacken verknotete finger unsinniges 
dahinschmelzendes lächeln das ganze wachsfigurenkabinett einer 
bröckelnden und verwitternden geistigkeit ließ sich da wiederfinden 
anwesend im abwesendsein verweste ihr wesen und mahnte und drohte 
den einzigen gläubigen nämlich uns die wir sie pflegten was so viel war
wie öllämpchen vor sie hinzustellen und sie sauber zu erhalten 
aber natürlich hinkte dieser vergleich das innere von kirchen
versucht bis zu einem gewissen grad das innere der gläubigen also 
einen glaubensraum zu repräsentieren dagegen scheinen die innenräume 
von psychiatrien weder geeignet zur heilung des innen ihrer insassen 
noch stellen sie dieses dar man läßt patienten der psychiatrischen 
einrichtungen zwar gern ihre einbildungen gesichte und schrecknisse 
malen nur nicht auf die wände ihrer zimmer 
auch das verfahren wie man zu einem heiligen wird war mit der prozedur 
insasse der stationen  a  b  oder  c  zu werden nicht zu vergleichen 
die polizei oder andere staatliche organe lieferten ein der krankenwagen 
brachte der arzt überwies die poliklinik behielt da man stellte sich freiwillig 
alles hing davon ab in welchem zustand sich der patient befand und wie 
er sich gebärdete von der straße aufgegriffene desorientierte verwirrte 
vernachlässigte personen brachte die polizei meist in der nacht mit dem 
streifenwagen es gab ein paar telefonate einigen papierkram dann packte
man den patienten erst mal in ein bett und verschob die restliche arbeit
auf den nächsten tag
erregte aufgebrachte gewalttätige patienten wurden vom gesamten 
verfügbaren personal der station in empfang genommen und sofort durch
körperliche einwirkung und medikamentenverabreichung ruhiggestellt
die patienten die als angemeldeter krankentransport bei tage eintrafen 
meist von außerhalb und meist in begleitung von angehörigen brachten 
stundenlang mit warten und herumsitzen zu bis alle laufzettel ausgefüllt
alle persönlichen sachen aufgelistet und alle wäschestücke gekennzeichnet
waren und die patienten die einfach dabehalten wurden überließ man in 
der regel erstmal einige tage ihrer überraschung bis sie ihre arbeitsstelle 
benachrichtigt und ihre häuslichen angelegenheiten erledigt und sich mit 
der neuen lage abgefunden hatten 
äußerlich ließen sich die insassen zwar einteilen in die gruppe die in den 
tagesraum durfte und diejenigen die zur arbeitstherapie mußten oder 
in die gruppe die in den garten ging und die gruppe die drinnen blieb 
aber das war nur zur unterscheidung für das pflegepersonal die patienten 
selbst unterschieden einander nicht in dem sinne daß sie etwa ein kollektiv
gebildet hätten oder in ihrer individualität eine entwicklung erkennbar 
gewesen wäre wenn es den sogenannten anderen gab dann entweder nur 
als gegenstand der man selber auch war oder vielleicht noch in form 
einer mehr tierhaft geahnten gleichheit  denn das dasein der insassen war
vor allem bestimmt von ihrer beziehungslosigkeit sie waren obwohl 
allesamt miteinander eingeschlossen jeder ausgeschlossen voneinander
eingesperrt in sich in ihre krankheit und der einzige zusammenhang den 
sie bildeten war ihre isolation das ergab eine organisationsform des 
zusammenlebens die offenbar das gegenteil von dem war was in und mit
der vakuole beabsichtigt zu sein schien also der organisierung des 
zusammenlebens nach den vorschriften und durch die anwendung einer
ideologie eines künstlichen systems einer oktroyierten bewußtseinsstruktur
die in der nervenklinik ansässige gesellschaft von vereinzelten teilen die 
ein ganzes bildeten ohne das nur ein teil davon bewußt dazugehört hätte
eine erzwungene zugehörigkeit das war wiederum ein bild der lage 
es war aber auch der auslösende verdacht dafür daß möglicherweise eine 
geisteskrankheit und eine ideologie mehr gemeinsamkeiten aufwiesen als
mir bewußt war und die mir unbedingt noch klarer werden mußten sollte 
ich begreifen was mir blühte 
einen erkennbaren zusammenhalt gab es aber doch je nach 
krankengeschichte durchliefen die patienten mit der zeit den 
gesamtkomplex aus station  a  b  und  c  daraus resultierte daß man sich 
auf eine gleichgültige uninteressierte weise doch kannte und genau aus 
eben diesem grund wiederum umso mehr mied das grundverhältnis 
in welchem jeder zu jedem reglos lautlos blicklos sinnlos verharrte war 
das der teilnahmsarmut  die geduldig einsitzenden jeder allein eingesperrt
in sein schicksal vereinte eine gemeinsame schicksalslosigkeit und die 
nervenklinik wirkte in den erschütterndsten augenblicken wie eine ecke
des hades ein ort übrigens der geschichtslosigkeit und zeitlosigkeit der
herkunftslosigkeit und eigenschaftslosigkeit an dem die einzelschicksale 
aller zur schicksalslosigkeit eines jeden wurden ein ort also der der 
vakuole im ganzen ähnlich war auch ergab sich eine fatale parallele bei
dem unvermeidlichen besuchen der westberliner im osten wie der 
angehörigen in der nervenklinik man brachte die fremdheit von draußen
mit die einem drinnen entgegenschlug gab sein päckchen ab und sah zu
daß man wieder weg kam und da draußen das war nicht die welt sondern
das bruchstück das fragment das zum drinnen nicht mehr dazugehörte 
und durch sein eindringen den bestand der vakuole gefährdete 
das zeigte sich am deutlichsten auf der station  c  dort war das 
pflegerinventar von den insassen nicht zu trennen wie manchmal im zoo 
oder im stalllwärter bei ihren schutzbefohlenen im käfig bleiben in 
kritischen situationen so hatten die pfleger der  c  sich mit ihren patienten 
eingeschlossen sie lebten miteinander auf engstem raum die nähe war
spürbar der unmittelbare kontakt zum patienten ging sehr weit manche
mußten ständig an der hand geführt werden 
nach außen gab man sich sehr verschlossen besuche waren nur gestattet
wenn sie dienstlich unbedingt nötig waren jeder besuch wirkte störend
jede störung konnte der auslöser eines tumultes sein und gerade die 
schaulust das mitansehen solcher ausbrüche sollte dort nicht befriedigt
werden auf der station  c  gab es darum keine öffentlichkeit und dieser 
ausschluß der öffentlichkeit entsprach modellhaft den aktuellen 
tatsachen


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

eins

mittelgroß kräftig dickschädlig den kopf wie ein boxer zwischen den 
schultern eingezogen das kinn auf der brust er hatte ein stets grienendes 
gesicht mit entenschnabelnase und wasservogelaugen 
vor ihm mußte man auf der hut sein er legte es drauf an solange er wollte 
kam man ihm nahe wähnte man sich sicher schlug er zu 
er zog seine kreise mit vorliebe dort wo ihm einer im weg war und rührte
sich nie von der stelle wo er im weg stand er hatte es gern wenn man ihn
nach seiner stimmung fragte und antwortete stets undeutlich hinterhältig
murmelnd 
der erste eintrag den ich im wachbuch über ihn las lautete er tötet 
jungvögel und ißt grünes gras


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

zwei

war der bruder von eins und bemerkenswert deshalb weil man an einem
ort an dem die schizophrenie hausrecht genoß überrascht zusammenfuhr 
wenn man ein und demselben zweimal begegnete 
bei rundgängen stellte man immer wieder erschrocken fest daß es 
ausreichend patienten gab die man meinte gerade auf der vorhergehenden
station angetroffen zu haben 
bei den brüdern eins und zwei gab es keinen zweifel der eine war der 
andere und dieser war jener das ohnehin aufregende motiv des 
doppelgängers schien in eine einzige person verlegt und diese wiederum 
aufgespalten 
wem das im verlauf einer besichtigung mehrmals kurz hintereinander
widerfuhr bei dem verfestigte sich der verdacht daß alle aufgespaltenen
im grunde nur die abspaltungen eines einzigen waren nämlich die 
zwiespältigkeiten seiner selbst


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

drei

war ein guter junge er war epileptiker und er war alkoholiker er wurde 
in die nervenklinik eingeliefert wenn seine epileptischen anfälle sich
häuften und er kam auf die psychiatrische zur entziehung weil seine 
trunksucht regelmäßig überhand nahm 
er stammte aus dem kiez wohnte über seiner stammkneipe und jeder 
kannte ihn das drückte sich schon in der verkleinerungsform seines 
vornamens aus er war also immer in seiner welt ob er am tresen stand 
oder irgendwo in seinem beritt unterwegs war stieß ihm etwas zu 
waren genügend helfer zur stelle die ihm beistand leisteten 
durch patienten wie ihn verlor die charité etwas von ihrer anonymität als 
universitätsklinik und wurde zu einem stück berlin n 4 natürlich war er
mit seinen schwestern und pflegern per du und erst recht mit die 
doktorsche so daß es fast schon unter das gewohnheitsrecht fiel daß er 
sobald sich sein zustand besserte und er ausgang bekam in begleitung
eines pflegers sich zur nächsten destille begab zum tachschen sagen
dort hatte der pfleger dann selber mit seinem gewissen auszumachen ob 
er sich drinnen mit ihm zusammen einladen ließ oder draußen auf seinen 
patienten wartete draußen war jedenfalls auffälliger zumal man einen 
weißen pflegerkittel trug er war zum glück aber auch ein janz lieber und 
kam nach der dritten molle wieder brav mit zurück 
zwischen zwei entlassungen rief der kneipenwirt einmal an um ihn 
abholen zu lassen dann lag er zwischen stuhl und tischbeinen auf dem 
geölten fußboden in der sägespäne und hatte überall schnittwunden <


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

vier

lief unablässig ernsten schrittes hin und wieder her die linke hand hatte
er vorn in die schlafanzughose gesteckt die rechte zur faust geballt 
drohend nach oben gereckt wild gestikulierend 
er schimpfte rund um die uhr wüst unflätig obszön er hatte eine feindin
seine widersacherin war das weibliche geschlecht es hatte an seinem 
unglück schuld 
wenn sein zorn und seine wut den höhepunkt erreicht hatten zog er sich 
nackt aus ging ins bad legte sich in die leere wanne auf den rücken und 
begann auf die roheste art sich erleichterung zu verschaffen 
er litt an einem übermäßig großen glied dieses war es welches seine 
verwünschungen ausstieß


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

fünf

einer der ersten fälle eines neuartigen syndroms einer form der 
mauerkrankheit offenbar sollten an der mauer nicht nur die 
eingemauerten erkranken sondern auch die maurer und die bauherren
er war offizier der grenztruppen befehligte als hauptmann einen vorderen 
abschnitt und hatte sich plötzlich verfolgt gefühlt  
er war geflohen unklar ob vor den republikflüchtlingen oder vor dem 
bauwerk seine eigene einheit hatte ihn wieder eingefangen und von der 
mauer weg der psychiatrie übergeben  
er war ein gesichtsloser glatzkopf mit einer schweren schwarzen brille
der furchtbar sächsisch sprach und absolut nichts soldatisches an sich
hatte er begriff seinen aufenthalt in der nervenklinik als eine art
abkommandierung er blieb unverändert im einsatz sozusagen auf befehl 
übergeschnappt 
zweierlei nur irritierte ihn seine unterbringung unter lauter verrückten 
und die versuchsfahrten bei denen er regelmäßig vom omnibus sprang
denn das trug ihm jedesmal die verlängerung seines kommandos ein 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

sechs

verhielt sich über ein viertel jahr hin völlig unauffällig so daß sich jeder 
fragte wieso ist der eigentlich hier 
am vortag seiner entlassung aber stellte er einen so haarsträubenden 
irrsinn an daß seine entlassung um ein weiteres quartal verschoben 
werden mußte 
des rätsels lösung er war ein simulant aber keiner der zwölf wochen gesund
war und einen abend verrückt sondern umgedreht er spielte über drei 
monate den normalen imitierte verständigkeit und simulierte den gesunden
drohte ihm dafür der wohlverdiente erfolg in form der entlassung gab er
für einen kurzen moment seiner wahren natur nach und durfte bleiben 
was hätte einer wie er draußen auch anfangen sollen 
als ein verrückter der unter lauter normalen den nicht verrückten spielt 
wäre seine simulation sinnlos gewesen weil nicht von den anderen zu 
unterscheiden in einer zeit wo das normale nichts anderes war als eine 
simulation des nicht normalen  


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

sieben

ein pedant eigensinnig und reizbar der sich seine schizophrenie auferlegt
hatte wie beamte ihre pflicht man könnte auch sagen er hatte sich ihr 
unterworfen 
jeden morgen bestand er auf der pünktlichen und vollständigen 
aushändigung seines rasierzeuges und der zusicherung diese utensilien
während der vollen zeit der toilette ungehindert und auf seine weise 
benutzen zu dürfen ja er bat sich sogar aus daß das pflegepersonal ihm 
dabei nicht zu nahe kam sondern in gebührendem abstand dem ritual
beiwohnte die rasur war der durchaus intimste teil der hygienischen 
verrichtungen vor allem aber der für ihn lustvollste und stellte einen akt 
der befriedigung dar
hatte er sich lange und gründlich eingeseift nahm er eine haltung ein 
wie ein staatsoberhaupt bei der verleihung eines ordens dann setzte er 
mit feierlicher geste sich die klinge an den hals und zog sie einmal über
die haut seine nasenflügel begannen zu vibrieren er atmete stärker setzte 
erneut an diesmal auf der wange und zog die klinge erneut durch diesmal
allerdings schärfer auch drückte er sie mehr auf sobald das erste blut floß
stöhnte er lustvoll auf das sanfte geschabsel ging in ein rohes kratzen über 
und schließlich in eine art mörderischer schinderei er hätte sich das gesicht 
vom schädel gerissen hätte man ihn gewähren lassen 
so aber griffen wir ein sein krampf löste sich fassungslos und benommen 
starrte er in den spiegel und während er wieder zu sich kam genoß er 
eine art nachlust die ihm das ausführliche reinigen und 
auseinandernehmen des rasierapparates verschaffte man mußte nur 
darauf achten daß er nicht die klinge verschluckte


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

acht

das war ein kugelrunder und mopsfideler mann der den ganzen tag auf der
station herumspazierte und jedem ob der es hören wollte oder nicht erklärte
für wie bescheuert er ihn hielt
er wirkte wie eine art abkömmling des sancho pansa der mit seinem 
don quixote eines tages die rolle getauscht hatte seither sprudelte er über 
vor absurden einfällen und provokanten frechheiten während der arme 
ritter in ihm sein verstand eine wahrhaft traurige gestalt abgab und ein 
phantasieloses hungerleiderdasein fristete 
er hatte eine in psychiatrien nicht häufig anzutreffende angewohnheit 
er sang laut und lange bei der arbeit und vermochte nicht nur zu seinem 
eigenen vergnügen nichts anderes anzustellen außer dem blanken 
schabernack
von beruf war er maurer und eines tages während er mit der errichtung
des antifaschistischen schutzwalls beschäftigt war meschugge geworden 
die sage ging daß er eines der abenteuerlichsten mauerstücke gemauert
haben soll mit einer türe zwei fenstern und einem winzigen balkon 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

neun    zehn

zwei privatpatienten in zwei einzelzimmern die beide verschiedener nicht 
hätten sein können die aber doch zur stammbelegung einer gutgeführten
psychiatrischen station dazugehörten
neun war an seiner seele erkrankt zehn an seiner vernunft verzweifelt
wenn neun vom typus her vielleicht ein poet genannt werden konnte schien 
zehn alle voraussetzungen für einen philosophen mitgebracht zu haben 
neun verkörperte die niedrige die sanfte die weiche energie zehn stellte die 
grobe die harte die rohe energie dar
neun äußerte sich dementsprechend zaghaft schüchtern gehemmt leise 
zehn dagegen eruptiv donnernd laut unumkehrbar herrisch bestimmt 
neun hatte eine ferne ähnlichkeit mit dem wie ein der depression verfallener
engel aussehenden kopf eines denkers von wilhelm lehmbruck
zehn hatte vom denker ebenfalls die stirn die wilde mähne die buschigen
brauen einen imposanten schnauzbart und dazu als widerpart einen 
respektablen klumpfuß
neun war ein übersetzer und arbeitete für mehrere verlage an der übertragung
zeitgenössischer belletristik aus dem polnischen 
zehn hatte sich als lebensaufgabe die verschmelzung der philosophischen 
grundlagen von friedrich nietzsche und karl marx vorgenommen 
neun kam zum verzweifeln langsam voran 
zehn brachte es auf gute zwanzig bis dreissig schreibmaschinenseiten pro tag
neun litt nahm hin ertrug
zehn fügte zu teilte aus wehrte sich
neun fühlte sich belästigt durch das licht welches durch die fenster schien 
von den geräuschen die durch die türen drangen durch den geruch der den 
gang durchzog der geruch der reinigungs und desinfektionsmittel stieß ihn 
ab die farbe der bettwäsche die form der schlafanzüge die beschaffenheit 
der betten das aussehen der möbel der anstrich der wände das linoleum des 
fußbodens die höhe des waschbeckens die reinigung seines zimmers 
zerstörte seine inspiration unter dem rhythmus der mahlzeiten verflüchtigte
sich seine konzentrationsfähigkeit die einnahme der medikamente ließ 
bei ihm den faden der geduld endgültig abreißen das leben war ihm eine 
zumutung die ihn bei der arbeit störte nichts aber auch gar nichts fand er vor 
was der ausübung seiner künstlerischen tätigkeit vorschub geleistet hätte
im gegenteil die welt war ihm im weg und hinderte ihn daran zu sein der er
war am liebsten hätte er sich in einem sterilen behälter untergebracht 
hermetisch verpackt und an einem ort abgestellt wo er für den rest der 
menschheit unerreichbar unauffindbar und also ungestört geblieben wäre 
anders zehn sein zimmer stand sperrangelweit offen kein sterblicher
hätte gewagt es zu betreten eine aufforderung einzutreten erging nicht 
die sphäre des zehn war jedem außer ihm verboten und sie flößte den 
mitpatienten besonderen respekt ein rasendes schreibmaschinengeklapper
auf und unter dem bett lagerten stapel von manuskripten und typoskripten 
die erregten selbstgespräche des zehn denn zehn verkehrte mit sich selbst 
und seinem werk per mündlicher mitteilungen auf zetteln notierten 
anweisungen schweigend hinterlegten erinnerungen oder im befehlston 
erlassenen anordnungen 
er verfiel in starre eine art selbstbann den er sich auferlegte wie in 
hypnose wie in trance und sprang in der nächsten sekunde aus dem 
stand auf das bett und zurück papier zerfetzte fliegende blätter
stoben umher zehn ohrfeigte erst sich dann seine schreibmaschine 
zerfleischte ein marxistisches standardwerk welches sich seiner 
beweisführung widersetzt hatte fegte die sekundärliteratur vom 
fensterbrett und stampfte nun schon ordentlich russisch fluchend
mit dem bewußten fuß auf  und wenn auch dies zum wiederholten mal
nicht half die angestauten dialektischen antagonismen zum reinen 
willens und vorstellungsakt aufzulösen griff er zum äußersten er hob 
sein bett hoch und rammte dessen eisenfüße wieder und wieder in 
den zimmerboden zehn war nicht der mann der irgendwelche thesen
an irgendeine tür nagelte er drosch sie in die erde er hieb und schmelzte 
und metzte und zwang sie mit macht die welt konnte draufgehen 
sofern der untergang nur sein werk war und seine handschrift trug 
und vielleicht geschah bei offener zimmertür vor aller erschrockener oder 
bewundernder anteilnahme  am elementaren prozess geistiger 
produktion die idee die zur materiellen gewalt wurde schlug jeden 
der vorbeikam in ihren bann sofern sie ihn nicht am kopf traf 
die selbstverpackung oder selbstvakuumierung die neun betrieb und der 
autoterrorismus den zehn an sich exekutierte blieben lange zeit die 
beiden bestimmenden extreme die man in berlin nach dem bau der 
mauer im verhalten der menschen beobachten konnte die einen zogen 
sich zurück sargten sich ein begruben sich lebendig in sich selbst 
die anderen zerstörten sich ruinierten sich machten sich kaputt weil 
alles sinnlos für sie geworden war später erst formierte sich aus beiden 
verzweiflungsformen eine mittlere weise des verhaltens eine art 
resignation auf vorbehalt die später zu einer verklumpung der 
persönlichkeit führen sollte 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017