berufung

nach dem urknall des mauerbaus als die ereignisse sich soweit abgekühlt
hatten daß die absurdität normale züge annahm nach außen hatte die neu
entstandene welt sich für geschlossen erklärt im inneren fing sie gerade an
sich auszudehnen in der phase also in welcher das chaos abgeflossen war
und die große leere raum gewann geschah am hellerlichten tag auf offener
straße etwas wofür die bezeichnung vorfall zu dramatisch und der begriff
ereignis zu allgemein gewesen wäre
an einem punkt der stadt wo sonst verkehr und betriebsamkeit gewöhnlich
waren erregte eine kleine begebenheit keinerlei aufsehen obwohl derjenige
den sie betraf für einen kurzen blick lang auf und sogar nach oben sah
alles was zu bemerken gewesen wäre für einen absichtslosen zuschauer war
daß ein junger mann an einem freitag vormittag gegen elf uhr es war mitte
august und schon sehr heiß aus einer menschenleeren häuserschlucht zu
einer belebteren lichteren hauptstraße gelangend diese wo die eine in die
andere einmündete offenbar gedankenverloren überquerte und obwohl der
verkehr gerade ausgesetzt hatte von etwas ganz und gar nur ihn angehenden
für die länge eines schrittes aus dem gleichgewicht gebracht worden zu sein
schien
es machte sogar den eindruck als zögerte er vor dem nächsten schritt ja
vielleicht blieb er einen herzschlag lang stehen um atem zu schöpfen
oder um sich herumzudrehen als läge in den zuletzt und zuvor gegangenen
schritten die erklärung für das was ihn hatte zögern oder gar schwanken
lassen
ein tieferblickender betrachter hätte allerdings erkennen können daß diesem
jungen mann etwas widerfahren sein mußte was weder mit dem überqueren
der straße noch mit seinen gedankengängen zu tun hatte denn sein
gesichtsausdruck war für das diesseitige auf eine unbegründete art etwas zu
verklärt und für alles andersseitige gleichzeitig zu entgeistert wohinzu noch
kam daß er offenbar wie mit jemandem sprechend die lippen bewegte
und hätte er sich selbst fragen gekonnt wo er sich für diese eine taumelnde
sekunde befand er hätte es am wenigsten zu sagen vermocht
etwas aber hatte ihn ereilt
jemand mußte nach ihm gerufen das wort an ihn gerichtet und mit ihm
gesprochen haben
da aber was in einem solchen zustand einem wie die ewigkeit vorkommen
mag unter fassbareren umständen bestenfalls den bruchteil eines lidschlags
anhält war der junge mann längst wieder bei sich selbst angelangt während
er ordnungsgemäß und verkehrsgerecht die überquerung der wieder
vielbefahrenen hauptstraße abschloß
und er legte sich im weitergehen das wovon ihm kunde zuteil geworden auf
eine für ihn sehr einleuchtende und logische weise folgendermaßen zurecht
ich bin also einen tag zu spät gekommen
einen tag eher und ich wäre weg gewesen
das mag zufall sein und muß trotzdem seinen grund haben
wenn es einen grund gibt hier zu bleiben ist das die arbeit
ist es aber meine arbeit daß das hier eine beschreibung findet so ist damit
entschieden daß ich ein dichter sein muß
diesen schluß nachdem er zu ihm gelangt war nahm er gleichsam als die
wörtliche wiederholung des auftrages der wie er fest glaubte an ihn ergangen
war er hatte durchaus das gefühl daß ihm eine art daseinsverpflichtung
auferlegt worden war und er mußte diesen eindruck umso mehr haben als
er sich bestimmt nichts sehnlicher gewünscht und erhofft hatte die monate
der unklarheit und unentschiedenheit vorher als gerade dies
jene sozusagen höchstinstanzlich ergangene und verkündete platzanweisung
kam dem jungen mann aus drei gründen sehr entgegen
sie entsprach seiner veranlagung seiner vorgeschichte und seinen absichten
man weiß zur genüge daß trotz des imponierenden erkenntnis und tatendrangs
der menschheit insgesamt die hauptlast der jeweiligen entdeckungen
eroberungen und erforschungen bis auf wenige ausnahmen auf den schultern
von einzelnen ruht denen die anderen sie stellvertretend aufgebürdet haben
das liegt oft daran daß von diesen einzelnen der entschiedenste impuls
ausgeht die idee zum aufbruch und die energie zum durchhalten
auch die massen zu etwas zu veranlassen ist oft die leistung von wenigen
denn bewegung und ausdauer sind der vielen sache gerade nicht
deren grundbedürfnis geht lieber in die entgegengesetzte richtung
die allgemeinheit befindet sich in übereinstimmung mit sich selbst wenn sie
in einem mindestmaß an zufriedenheit bequem abwarten und zuschauen kann
die aufregungen und schrecknisse der welt sind nicht ganz so furchtbar sofern
sie in die handlungen der gesamtgeschichte eingewoben sind wie die
abwechslungen und überraschungen des alltäglichen in den gang des eigenen
lebens
das große und das kleine welttheater mußten einander entsprechen und in etwa
das gleiche stück spielen und umso lieber schaute man zu kamen die hauptdarsteller
aus den eigenen reihen des publikums
insofern befindet sich die menschheit als ganzes dann doch mit sich im reinen
und die bilanz zwischen den objekten und den subjekten ihrer geschichte ist
ausgeglichen
unter den verbliebenen insassen des neuen gemeinwesens gehörte die mehrzahl
ihrer sozialen herkunft nach zu der klasse in deren namen dieses staatliche
gebilde gegründet worden war für sie war es die verkörperung ihres grundbedürfnisses
nach sicherheit es war ihnen der inbegriff von schutz vor der rauhen wirklichkeit in der
sie zuvor oft nur um das nackte überleben gekämpft hatten
mit der entscheidung dieses ihres staates zur errichtung eines in keiner
richtung überwindbaren grenzbaues entsprach das staatswesen einem
urverlangen und urbedürfnis der mehrheit seiner einwohner nach umhegung
und einfriedung das wiederum deren innerstem wesen nach ruhe und
abgeschiedenheit entsprach gibt es nicht friedhöfe die den gedanken an das
paradies aufkommen lassen und so ihnen ein gefühl der endgültigkeit und
unveränderlichkeit vermittelte des geborgen und für immer aufgehobenseins
von jeglicher eigener verantwortung befreit und dem dasein gegenüber
vom andauernden kampf mit diesem erlöst unter der schieren obhut einer
schützenden übergewalt fühlten sie sich endlich frei von angst und
versorgten haustieren gleich vermißten sie nicht länger den gestirnten
himmel über sich oder gar die unbedingte verpflichtende und gebietende
aufforderung zur erkenntnis in sich
stattdessen schien ihrer welt gelingen zu wollen was wie die lösung eines
menschheitsrätsels anmutete leben sollten sie fortan in einer art stall
aus welchem freiwillig und von selber keiner fortlief und der unsichtbar
und den bösen blicken entzogen sich hinter einem eisernen vorhang
verbarg
nach dem willen der führer ihres staates würden in nur ganz kurzer
allerdings äußerst anstrengender zeit alle mitglieder der neuen gemeinschaft
die freiwilligen wie die gezwungenen oder besser die dagebliebenen wie
die dabehaltenen heimisch geworden sein in einer ungeahnten art von glück
und was bei aller wünschbaren unterschiedlichkeit im besonderen oder
einzelnen im allgemeinen darunter man sich vorzustellen wagte daß war wie
eine blühende landschaft in der zeitlos gesundheit und wohlstand gediehen
und alles und jedes quoll über vor behaglichkeit bequemlichkeit und
gemütlichkeit
oder anders und wie man damals tat ideologisch ausgedrückt die schöne
zukunft erstrahlte was sage ich erklang als eine einzige einheitliche allerdings
auch bedingungslos sozialistische lebensweise
wenn sich ein ganzes gesellschaftsmodell aus einem einfachen bedürfnis
der menschlichen natur verstehen läßt dem nach heimat und behausheit
dann ist leicht einzusehen wie stark und unmittelbar der zukunftsentwurf
eines jungen mannes von dessen eigener kurzer lebensgeschichte abhängt
er war gleich nach dem ende des krieges von so vielen soldatenarmen getragen
und von so vielen fremden frauen an die hand genommen worden er hatte
in so vielen kalten eisenbahnzügen sich an so viele frierende andere menschen
gepresst bei so vielen ernsten pflegemüttern und strengen kindertanten auf
dem schoß gesessen in so vielen kaputten kalten wohnungen bei neuen
nachbarn und alten bekannten war er abgegeben und wieder abgeholt
worden in so vielen familien vorübergehend wie an kindes statt angenommen
gewesen daß er zwar schnell begriffen hatte was es hieß ein flüchtling zu sein
trotz allem aber hatte er nie das empfinden was man auf der flucht zu sein
nennt
er fühlte sich in jeder umgebung heimisch gerade weil er ein fremder war
und unheimlich wurde ihm eher wenn diese fremdheit von ihm wich
späterhin war er verschiedentlich in einrichtungen untergebracht gewesen
wie sie zur gemeinschaftlichen ausbildung und erziehung halbwüchsiger
bestehen die verwaist deren eltern vermißt sonstige erziehungsberechtigte
nicht existierten beziehungsweise die elternteile oder angehörigen aus
gründen des gelderwerbs für aufsicht betreuung und versorgung oft nur
tage oder wochenweise meist monate oder jahrelang nicht zur verfügung
standen
dort hatte er jene techniken der anpassung erlernt die ihm gestatteten
sich so zu verhalten wie jeweils gerade nötig war damit innerhalb des
ihm vorgegebenen rahmens ein freiraum um ihn entstand der ausreichte
sich auf seine art poetisch intellektuell mit genau der einschränkung zu
befassen die ihn umgab
durch die einsichten die er dabei gewann dehnte er diesen freiraum
immer weiter aus mit der folge daß sowohl die begrenzung selbst als auch
eine jenseits derselben angesiedelte gedankliche ersatzwelt gegenstandslos
und überflüssig waren
wenn nun wie zum ausgleich des durch äußere umstände erzwungenen
hospitalismus seinen ort heimlicher heimat nicht nur das stachlige gestrüpp
der herkunftslosigkeit und das bittere gewächs der vaterlosigkeit umrankten
sondern die kahlen wände des eingemauertseins woran beide emporwuchern
mochten diesen ort noch überragten so war auf grund seiner bisher
gemachten erfahrungen auch das nur ein grund mehr sein außerhalbstehen
im darinnensein das den dingen gegenüberstehen im sich ihnen
ausgesetztsein anzusiedeln und als fluchtpunkt jenen platz anzunehmen
auf dem er sich befand
und eben diese platznahme enthob ihn nicht nur des kollektiven
verhängnisses wie unter zwang und um jeden preis die flucht ergreifen zu
müssen sie lieferte ihm auch die begründung für sein dagebliebensein
späterhin und welchen gebrauch er davon zu machen die absicht hatte
bildete er auch sonst keine ausnahme in diesem punkt unterschied er sich
doch erheblich von den angehörigen seiner umgebung
es war nicht seine absicht sich als ein gefangener zu fühlen oder sich wie in
gefangenschaft halten zu lassen von einer freiheit träumend die anders
unerreichbar ist jegliche reale gegebenheiten außer acht lassend in
aussichtslosen fluchtphantasien sich erschöpfend
er wollte aber genausowenig auf die seite der neuen zustände überlaufen
und im gleichschritt hinter der knatternden fahne der affirmativen gesinnung
einhermarschieren
noch weniger konnte ihm daran gelegen sein die flucht in die andere
richtung anzutreten und der äußeren internierung die innere emigration
folgen zu lassen
sich zu verkriechen in einer eigens dafür entworfenen gegen oder extrawelt
ebenso abgedichtet und verschlossen wie die tatsächliche war für ihn
undenkbar
und die größte abneigung hegte er gegen die direkte konfrontation eines
amoklaufenden dagegenseins
am allerwenigsten wollte er ein opfer werden
stattdessen war er fest entschlossen die lebensumstände die ihn umgaben
durchaus nicht als unbegreifbar und unabänderlich hinzunehmen
die wie er meinte ihm gegebene antwort war mit einer verantwortung
verbunden
keinesfalls wollte er sich davor drücken sein unterfangen in die tat
umzusetzen
darum mußte er einsicht nehmen in das was sich ihm in den lebensweg
gestellt hatte mit der behauptung eine notwendigkeit zu sein er nahm sich
vor die beschaffenheit dieser notwendigkeit zu erkennen
er beabsichtigte die vermeintlichen vorteile dieser notwendigkeit
auszunutzen und sie zu deren nachteil anzuwenden und er zweifelte nicht
daß es gelingen würde das hindernis dieser notwendigkeit umzustürzen
er fühlte den ernst der gegenseitigen auseinandersetzung zu der das führen
mußte und ihn durchheiterte die ahnung daß nur die poesie es vermögen
würde etwas in ihm in freiheit zu verwandeln sie war die einzige notwendigkeit
die er einsah
von dieser einsicht wollte er einen gleichsam luziferischen gebrauch machen
und in eine seelische opposition zu der welt treten die ihn wie für sich
reserviert und mit beschlag belegt hatte
sollte dies abweichung und abtrünnigkeit bedeuten wollte er solche art
abtrünnigkeit gern auf sich nehmen und ein plötzlich mitten aus ihm
aufsteigendes gelächter von dem er sich nicht rechenschaft gab ob es
dieser vorstellung oder ihm selbst galt trieb ihn förmlich an diesem impuls
zu folgen


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017