A

er war nicht das was man sich unter einem chef vorstellte auch nicht der
typische nervenarzt merkwürdigerweise entsprach er der vorstellung
die sich mit dem begriff des psychiaters verband 
er war nicht klein zart oder schwächlich kein huzelmännchen aber doch 
knerzlig weder gerade noch krumm wirkte er doch sehr gnomig 
buschige augenbrauen dicke brille vorgeschobenes ständig mahlendes 
kinn gesträubtes nackenhaar über einem dürren faltigen hals den keines
hemdes kragenweite passend zu umschließen vermochte
die körperhaltung krampfig knotig wahrscheinlich weil er die zu langen 
arme immer in den zu hoch sitzenden taschen des zu kleinen arztkittels
stecken hatte der seiner gestalt etwas verzogen verzerrtes gab 
die schultern zog er verschieden hoch dadurch wirkte die höhere linke
schmaler und schiefer die rechte tiefer und breiter die daraus resultierende
kopfhaltung war schräg und verdreht
die hosen seines anzuges waren stets zu kurz weil er die hosenträger zu
straff spannte seine füße steckten in klobigen schwarzen schuhen mit 
schweren gummisohlen die auf dem gebohnerten linoleum bei jedem 
schritt seines extrem schnellen ganges quietschten
sowohl seine anweisungen als die art ihrer erteilung ergaben in ihrer kürze
rätselhaftigkeit und unverständlichkeit durchaus etwas kryptisches den 
unartikulationen der patienten nicht ganz unähnliches und in noch einem
glich er ihnen in der alles außer dem ins auge gefaßten zweck ausblendenden
wahrnehmungsfähigkeit er erfaßte jeweils nur den teil seines patienten 
von dem er die gewünschte bestätigung zu erhalten sich vorgenommen 
hatte er stellte keine fragen sondern nahm sich gleichsam ungefragt was er 
haben wollte er wußte vorzufinden und erlangte demzufolge das verlangte
dieser vorgang verbrauchte fast keine zeit alles ging schnell und lautlos und
geschah so sehr im nichtsichaufhaltenlassen daß man dessen erst gewahr
wurde da er längst vorüber war er floh seine patienten noch bevor er sie 
erreichte denn wie jeder psychiater vor und nach ihm war auch er rastlos 
damit befasst seine seit längerem fällige völlig überarbeitete und so noch 
nie dagewesene und also ganz und gar neue vollständige und übersichtliche 
systematische einteilung aller bis dahin beschriebenen und unbeschriebenen 
psychosen fertigzustellen


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

B

sie trug feste strümpfe runde gesundheitsschuhe mit halbhohen absätzen
und einlagen dazu rollkragenpullover und über dem dreiviertellangen 
wollenen faltenrock einen übergroßen arztmantel 
ihr natürlich gelocktes angegrautes haar trug sie an der seite gescheitelt
und hinten zusammengesteckt ihr sehr von den leicht herabhängenden
wangen geprägtes gesicht war nichtsdestoweniger alles andere als weich
die eher herben züge verdeckten unter winzigen runzeln falten und furchen
eine verborgene form von männlichkeit wie man sie außer bei starken 
raucherinnen und trinkerinnen nur noch bei frauen mit ganz bestimmten
berufen findet zum beispiel bei gefangenenwärterinnen tierpflegerinnen
oder eben wie es hier der fall war wo sich in der äußeren hülle etwas von 
den tieferen schichten ausdrückte offenbar weil ihr körper und dessen
empfindungen und leidenschaften zwei verschiedenen sphären 
angehörten das diesbezügliche gerücht drückte das natürlich eleganter 
aus da hieß es nur sie hätte ihr gefühlskorsett in einem herrenatelier 
schneidern lassen und damit war die andeutung glaubhaft genug 
umschrieben  
sie war nicht groß von leicht untersetzter statur hatte einen etwas plump
wirkenden gang und wirkte meist gedankenverloren wenn nicht gar
träumerisch dies zusammen mit einer gewissen nachlässigkeit ihres 
äußeren einer laufmasche oder aufgegangenen haarsträhne gaben ihr
etwas ungewisses künstlerisches zugleich auch etwas handwerklich
bodenständig bäuerisches
ihre fähigkeit zur autorität die strenge ihres arbeitswillens ihre 
diszipliniertheit und wissenschaftlichkeit waren ihr nicht auf den ersten
blick anzusehen obwohl für jedermann unübersehbar war welch 
unglaubliches arbeitspensum sie rund um die uhr bewältigte
außerhalb der nervenklinik war sie nicht vorstellbar aber man erlebte auch
nie daß sie unmittelbar mit einem patienten sich abgab bestenfalls
vorstellbar daß sie es unter dem mikroskop oder im reagenzglas mit 
menschen zu tun hatte so sehr entrückt schien alles bei ihr in die 
wissenschaftliche in die theoretische medizin sie heilte nicht sie forschte
aber da sie mit lebenden präparaten hantierte wirkte ihre arbeit mehr
wie die einer physikerin oder chemikerin die versuchsreihen anstellte
in einem labor als das man sie hinter einem schreibtisch gesucht hätte
hinter büchern wo sie sich tatsächlich aufhielt
zwei doktortitel hatte sie damals schon die typischen medizinerallüren 
hatte sie längst abgelegt ihres ranges aber war sie sich wohl bewußt


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

C

ein puppengesicht mit einer puppenfrisur kinderbluse mit rundem kragen 
mädchenkörper aber nur das oberteil nach unten wurde sie zwar breiter 
doch nicht weiblicher eher markiger sie benutzte ihre untere hälfte zur
fortbewegung wie ein sportgerät es hätte gut zu einer biologielehrerin
einer turnpädagogin oder der vorsitzenden eines wandervereins gepaßt 
sie trug karierte röcke und geländegängige schuhe mit beeindruckendem 
profil 
kreuz und knie waren stets durchgedrückt die waden soldatisch stramm
als schritte sie vor ihrer riege her zur nächsten übung nur das sie eben 
nicht schritt oder marschierte sie preschte vor fegte zurück wirbelte herum
und schoß davon treppauf treppab die gänge hin die flure her zur einen 
tür rein zur anderen tür raus durch die säle um die betten über die 
stationen es zog war sie vorbei so sehr machte sie wind
und sie war eine einzige verklemmtheit nymphengleich floh sie panisch
alles maskuline mann zu sein war ihr die inkarnation der unanständigkeit
die keuschheit einer nonne hätte nicht furioser sein können hochrote 
scham trieb sie an ihr anstand schäumte empört auf ihre erregung war
wütender abscheu im ekel lag lust ihr brunstschrei hieß pfui
darum diente sie der heilkunst mit medikamentöser hingabe sanitärer 
aufopferung und hygienischer einsatzbereitschaft übergründlich 
übereifrig unermüdlich schuftete sie bis zum umfallen und ergänzte ihr
erscheinungsbild der rollenden augen der erröteten erhitzten wangen
der knapperkurzen fingernägel der sommersprossig ekzematösen haut 
der hektischen flecken am hals durch die merkwürdig großen spröde 
rissigen nach seife riechenden von desinfektionsmitteln ausgelaugten 
hände mit den breiten abgeflachten fingerkuppen wie man sie kennt bei
harfenistinnen zu übereifer und übergründlichkeit kam überreinlichkeit
durchaus wäre ihr eine art psychischen waschzwangs zu bescheinigen
gewesen vervollständigt wurde der gesamteindruck ihres porträts von 
einem schlüsselbund der ihr einer äbtissin gleich zutritt zu sämtlichen 
klösterlichkeiten der nervenklinischen anlage gewährte sie jonglierte
damit pausenlos ließ ihn fallen oder liegen genauso wie die überschweren
stapel von krankenakten und befundblättern mit mit denen sie ständig
befrachtet und überladen war und die verrutschten durcheinander 
gerieten über den boden verstreut wieder eingesammelt werden mußten 
so mancher fall bei dem die psychose schon lange nicht mehr mit seiner
akte übereinstimmte so oft waren seine unterlagen falsch einsortiert
worden und schließlich gab es da noch ihre große autorität und disziplin 
betonende vor allem äußerste pünktlichkeit einfordernde armbanduhr
eher ein instrument der machtausübung ein apparat zur 
selbstbeherrschung auch selbstzüchtigung ein zeitmesser im doppelten
sinn des wortes und nur dieses ding an ihr war unmittelbar gewollte
und zu schau gestellte männlichkeit dieses fast terroristisch zu nennende
werkzeug war eine herrenuhr
war von  C  die rede benutzten alle ihren vornamen oder die abkürzung 
ihres nachnamens und sie sorgte dafür daß von ihr die rede war alle hielt
sie auf trab weil sie allen auf die nerven ging besonders den patienten 
sie reagierten darauf mürrisch bis unwirsch gar verstockt oder nahmen 
sie ungeniert auf den arm veräppelten sie und stellten sich verrückter an
als sie waren die meisten patienten wußten was von ihnen verlangt
wurde und spielten ihre rolle gekonnt sie hatten ihre psychose nicht nur
sie beherrschten sie auch und  C  stolz über so viele glücksfälle ahnte nicht 
daß alles dies sie sich selbst zu verdanken hatte so wie sich die patienten 
vor ihr aufführten war es ganz allein das werk ihrer inszenatorischen 
anstrengung jeder gab sein bestes tat ihr den gefallen und präsentierte
sich wie sie es sich lehrbuchreifer nicht hätte wünschen können 
sie dankte dies ihren schützlingen jedesmal indem sie mühelos die kluft 
zwischen arzt und patient überwand und alle in dem glücklichen irrtum
vereinte sie wäre eine von ihnen


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

D

um ihn war männlichkeit keine teutonische keine preußische keine 
äußerlich anerzogene es war eine männlichkeit die angeboren war
die von innen kam die nichts aristokratisches an sich hatte einfach
nur mediterran war südlich aus einem anderen volk und aus dessen
vergangener größe herrührend aus einer lange währenden geschichte
und aus einer tradition die alt aber nicht leer war
es war eine männlichkeit der ordnung und der notwendigkeit des 
zusammenlebens die sitte und anstand auch abstand erzwang  
es war eine naturgegebene und eine natürliche männlichkeit sie war 
patriarchaisch diese männlichkeit bestand aus freundschaft und 
feindschaft fehde und zwist und brüderschaft kampf und haß bis aufs
blut aus sieg und niederlage es war eine männlichkeit des aufstandes 
des widerstandes des umsturzes der revolte des vaterlandes und des 
patriotismus es war eine politische männlichkeit in der es um macht 
und recht ohnmacht und unrecht um verfolgung folter und mord ging 
verschwörung geheimnis untergrund verrrat und um leben und tod
und um das töten es war eine männlichkeit des krieges und der 
befreiung des partisanenkampfes in den wäldern eine männlichkeit 
der weltanschauung der gesinnung der überzeugung und des glaubens
und eine männlichkeit der solidarität des parteiergreifens der treue 
zu einer idee aber auch der blindheit des fanatismus und des gehorsams 
eine fordernde männlichkeitdie als vorbild genommen sein wollte 
der es  nachzueifern galt eine männlichkeit die sich fortpflanzte 
vom vater auf den sohn sich übertrug von genosse zu genosse
es war eine männlichkeit des leidens  des schmerzes des verlustes und 
der opferbereitschaft der trauer und der ernüchterung des pessimismus 
und der illusionslosigkeit eine männlichkeit des fatalismus und es war 
eine männlichkeit der fremde des exils der sehnsucht nach der heimat
des stolzes und der starrheit die sich verzehrte und verzehrt wurde von
einem innerlichen brand einer glut einem feuer einer hoffnung auf 
rückkehr diese männlichkeit war schwarz und behaart und von dunkler
haut sie roch nach tabak sie war wortkarg und sprach in einem 
ausländischen tonfall sie befahl mit einer selbstverständlichkeit die nicht 
verletzte und hielt sich mit nichts auf was nicht ihre angelegenheit war 
sie schien eher bäurisch als städtisch eher proletarisch als bürgerlich war 
zart vornehm rücksichtsvoll und keusch gegenüber allem weiblichen 
und war gleichzeitig doch eine so sehr ausgesprägt männliche form der
männlichkeit souverän und elitär einerseits andererseits auf eine 
unbeholfene weltfremde art auf das vorhandensein alles dessen 
angewiesen was zur befriedigung der ansprüche des täglichen lebens 
unverzichtbar schien nicht sich eine sekunde abgebend mit fragen des 
lebensunterhalts und doch mit dem wohlstand so vertraut sich diesen 
in aller bescheidenheit leisten zu können und es war eine männlichkeit
die zwar noch von etwas kündete von etwas zeugte für etwas stand das sie
nicht verloren geben wollte und die doch vorbei war deren zeit um war 
untergegangen gescheitert überlebt
aus griechenland war  D  gekommen ein kommunist war er geflohen
nach dem gescheiterten aufstand in den teil deutschlands der in nichts 
ihm entsprach einsam alternd gestrandet behandelte er einige kameraden
die in der illegalität der haft dem exil krank geworden waren und wartete 
auf nichts mehr die nachricht von dem obristenregime ist ihm erspart
geblieben er war krank und ist vorher gestorben


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

E  F  G

sonst denkbar verschieden 
in einem punkt sich gleichend 
vom typ her keine männer aber herren 

E

erschien als die verkörperung seines vornamens der fast so steif 
klang wie eine österreichische tortenzutat seine haltung  zur welt 
äußerte sich schon in seiner körpergröße nicht daß er von oben herab 
sah eher sah er darüber hinweg er stand über den dingen sehr gerade 
überaus aufrecht und immer wie aus dem ei gepellt ein gepflegter 
scheitel die hände vollendet manikürt erstklassige anzüge und hemden
ausgezeichnetes schuhwerk noble krawatten ein primus und 
musterknabe alles an ihm war tadellos nicht auffällig kostbar nicht 
erkennbar wertvoll auf den ersten blick doch von beherrschter 
wohlhabenheit elegant nicht modisch und noch im kleinsten frei vom 
geschmack des gediegen bürgerlichen er hielt entschieden auf stil 
vielleicht nicht herrschaftlich wohl aber fein waren seine bildung
musisch wie klassisch sein auftreten distanziert und korrekt seine 
überlegenheit eine spur zu betont der ruch der unnahbarkeit hing 
ihm an die aber war selbstschutz und abwehr vor allzupersönlichem  
er war ein einzelfall er isolierte sich er befand sich bei seiner arbeit wie 
in quarantäne seine karriere war auf dem kürzesten weg verlaufen 
seine wissenschaftliche tätigkeit ging unbehindert und gesamtdeutsch 
vonstatten es hieß wer gnade vor seinen augen und aufnahme in seiner
abteilung gefunden hatte der mußte staatlicherseits nichts mehr 
befürchten 
er war eine kapazität galt als unverzichtbar und schöpfte das ihm 
zugestandene höchstmaß an privilegien auch zu diesem zweck diskret
und effizient voll aus außer auf wissenschaftlichem fuß verkehrte er 
mit niemandem er arbeitete stets noch spät in der nacht sein arbeitszimmer 
galt als das repräsentativste der klinik man wußte etwas von einer villa 
an einem see der kranken mutter dort und seiner vorliebe für exotische 
vögel das einzige was er sich daneben noch leistete war ein  
atemberaubend teures wie schönes automobil aber dieses einzige ins 
auge fallende symbol seiner sonderstellung und außerordentlichkeit 
wurde allgemein wie von ihm selbst eher als standesgemäßes accessoir
denn als ihm nicht zustehender luxusartikel empfunden eine andere art
sich fortzubewegen war undenkbar ein solches ansinnen an ihn zu stellen
hätte keiner gewagt und über neid wäre er ohnedies erhaben gewesen
er zeigte zwar kein verständnis dafür daß das ausmaß der bewunderung
welches dieses auto hervorrief jede zulässigkeit überschritt aber er 
tolerierte sie


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

F

hatte seine abteilung unter der erde im keller wo an der decke heizungs
wasser und abflußrohre verliefen dampfend rauschend gurgelnd das 
künstliche lich der neonröhren knisternd zuckte flackernd flimmerte und 
die pulvertrockene luft nach seife bohnerwachs und desinfektion roch 
vermischt mit dem mief gebrauchter und dem bügel und mangelgeruch 
frischer wäsche denn hier befand sich das reich des ottchen ort und stelle
des wäschetausches hier herrschte reges kommen und gehen es wurden
außer laken bezügen handtüchern und kitteln gerüchte geschichten 
neuigkeiten getauscht aber das ende des ganges wurde von personal wie 
patienten gleichermaßen gemieden kein verbotsschild und doch ging 
niemand weiter etwas ließ einen abstand halten kein tabu eine dunkle 
hemmung sich zu nähern ein widerstreben in etwas hineinzugeraten 
einfacher gesagt es war ein wenig gruslig und unheimlich dieses kellerende              
in der abteilungstür gab es ein sichtloch das saß in der tür wie das dritte
auge inmitten einer stirn es gab eine große klingel wie an der pforte zu
einem gefängnis die tür selbst war unübersehbar verstärkt in der füllung
und den angeln und über einlaß oder sonstigen begehr verhandelte der
draußenstehende mit unsichtbaren mitarbeitern über eine klirrende und
scheppernde wechselsprechanlage und wohin der eintretende geriet
war ihm jedenfalls nicht klar ob hinter die schottenwand eines schiffes
das innere eines tresors oder in die druckkammer einer technischen 
versuchsanstalt 
die abteilung  war keine geschlossene aber eine gesicherte abteilung 
an der wand vor der tür stand eine bank dort warteten der patient und 
sein bewacher oder der bewacher wartete auf den patienten der drin war 
oder ein bewacher mit patient waren drin und ein zweiter bewacher 
wartete draußen die bewacher trugen dunkelblaue uniformen und waren
angehörige des strafvollzuges die bewachten trugen handschellen und 
waren straftäter keine kleinen fische allerdings ihre fälle waren 
komplizierte schwer zu beurteilende an der grenze von 
zurechnungsfähigkeit und schuldunfähigkeit  sie wurden aus der haft 
oder u haft vorgeführt weil ihre begutachtung gerichtlich angeordnet
worden war und es ging um sehr viel lange jahre des eingesperrtwerdens
nicht selten lebenslänglich in ausnahmen um leben oder todn wer dort
am ende des ganges auf der bank saß konnte ein mörder sein ein kranker
und meist war er beides das ließ jeden unbeteiligten schaudern und 
rechtzeitig umkehren 
ging dann aber die tür überraschend von innen weit auf und schob der
leiter der gerichtspsychiatrie eigenhändig seinen teewagen mit der 
geleerten kanne und den benutzten gläsern hinaus verflog jegliche 
beklommenheit ein vertrauen schaffender zigarrenduft ging von ihm aus 
nicht selten ein einlandender hauch von whyskey und seine 
sportsmännische statur die runde stirn rosige haut geäderte wangen 
der schnauzbart und die fischaugen ließen ihn obwohl er aus ostpreußen
stammte und sein name polnisch klang sehr britisch aussehen 
das gentlemanhafte seines wesens und die unbeugsamkeit seiner 
gesinnung verliehen ihm eine haltung aus aufrichtigkeit und aufrechtheit
wie sie überzeugender nicht vorstellbar war 
nach außen führte er das zurückgezogene leben eines privatdozenten
der sich jeder anderen als der fachlichen vereinnahmung entzog 
nach innen glich seine existenz eher der eines heiligen sebastian
der an sein moralisches rückgrat gebunden wie an eine säule 
den ideologischen pfeilen seiner politischen widersacher wehrlos 
preisgegeben schien was er verkörperte war nicht weniger als ein 
aus stärke mut und geleistetem widerstand ertrotztes stück freiraum 
fast eine kleine exterritorialität jedenfalls aber das gefühl daß es mitten 
im endlichen der ddr noch etwas gab was grenzenlos und anders war 
und schon auf grund dieser eigenschaften und fähigkeiten das gegenteil 
von dem was innere emigration hieß
was er aber ertrug äußerte sich zunehmend in melancholie und 
herzbeschwerden so daß er nicht sehr alt geworden ist


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

G

leiter der poliklinik bleich wie der kellner eines nachtlokals mit den 
bewegungen eines eintänzers eine gestalt aus den zwanziger jahren 
das haar trug er derart glatt und straff nach hinten gekämmt daß man 
kopfschmerzen bekam sah man ihn nur an 
er schien in anderen regionen zu schweben ein wesen von außerhalb 
er vermied es die luft der nervenklinik zu atmen berührte nichts 
sein weißer kittel nur leicht übergestreift und blendend rein wie kokain 
bauschte sich kaum 
wenn er überhaupt aus seinem bereich in einen anderen hinübertrat 
beschwerte er sich mit nichts kein krankenblatt kein ärztliches utensil 
nur flüchtig fahrig die bewegung seiner hand ein ausdemwegweisen 
einer berührung ausweichend eine begegnung abweisend
derart belästigte ihn jede gewöhnlichkeit und ihn umgab offenbar nur 
beeinträchtigung er war ein esoterischer gigolo und snob der heilkunst
man hätte es geglaubt hätte er seine abende mit gesangsauftritten 
verbracht in noblen ballhäusern 
auf keinen fall aber wirkte er halbseiden dazu waren seine arroganz zu 
messerscharf und seine eitelkeit nicht schwammig genug für einen  
hochstapler oder heiratsschwindler hätte es vielleicht gereicht allerdings 
keinen richtigen sondern einen aus dem kino man wurde dem anspruch 
den er an sich selbst stellte am ehesten gerecht hielt man ihn für einen 
filmstar


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

H

zwar von nur halber mannsgröße dafür doppelt breit ensprechend 
gewichtig seine gestalt aber nicht kuglig nicht rund eher vierschrötig
schwer zu verdrängen dabei selber sehr beweglich fast elastisch ein 
herbergsvater hätte er sein können ein unteroffizier oder gastwirt
gesprächig war er umgänglich aber nicht plump und schon gar nicht 
ohne hintergedanken man kam kaum unausgefragt an ihm vorbei
seine tür stand immer offen er war immer da er lauschte nicht er spähte
nicht und wußte doch wer kam wer ging und was geschah
nie wurde er direkt er verwickelte lieber in eine unterhaltung verlor sich
scheinbar im plauderton gab jeder ansicht eine andere färbung jedem 
standpunkt eine andere tönung vergrößerte und vergröberte argumente
verkleinerte und verfeinerte probleme verschärfte gegensätze hob details
hervor und schnitt gleichsam die antworten auf seine fragen in dünnen
schichten aus seinem gesprächspartner heraus ohne ihm wehzutun
war er ihm tief genug unter die haut gedrungen und hatte aus jedem 
gewebe die ihn interessierende probe an neuigkeit entnommen ließ er
ab von seinem versuchskaninchen welches das gefühl zu einem 
mikroskopischen präparat gedient zu haben nicht so schnell wieder los
wurde  H  war histologe und  H  war parteisekretär 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

I

eine dunkle gestalt und schwarzer geselle angehörig unteren welten 
nicht schlecht oder böse viel mehr und anspruchsvoller abgrundtiefer
verruchter schwarzhaarig schwarzäugig braunhäutig gelbgesichtig 
aber nicht eigentlich südländisch kein verführer kälter glatter fremder
ohne rasse unedel 
wenig lag ihm an unterwerfung viel an abhängigkeit die er nicht erzwang 
er ließ sich von ihr bezwingen auch mißbrauchte er nicht mißachtete nur
quälte nicht ließ leiden entehrte nicht verdarb kein heiler ein unheiler
ein verhängnis also besonders für seine weiblichen mitarbeiterinnen
etlichen hatte er unglück gebracht nicht seine anziehungskraft war es 
welche die frauen anzog sondern deren wirkung auf ihn die ihn nicht 
interessierte 
sie griffen nach ihm als einer gestalt die in ihren träumen vorkommen 
mochte er entsprach vielleicht einem bild welches sie in sich trugen 
sie banden ihn an sich schworen ihn auf sich ein sicherlich unbewußt
und dienten ihm doch eine hingabe an zu der drängte mehr noch als 
ihr leib sie ein insgeheimer teil ihrer seele 
kaum aber hatten sie sich ihm an den hals geworfen waren sie ihm 
verfallen und sobald sie ihm gehuldigt hatten nahmen sie schaden 
man munkelte von einer verbindung mit einer um vieles älteren
von der er sich erst erhören dann sein studium über hatte aushalten 
lassen um sie schließlich zusammen mit dem staatsexamen abzulegen
hinterblieben war ihm von ihr ein gefährt jenes typs innen und außen
schwarz wie sie selbst den politiker ganoven und beerdigungsinstitute
gleicherweise als dienstwagen bevorzugten und der somit einem wenn
auch entfernten abkömmling des leibhaftigen als ein ihm gemäßes 
statussymbol durchaus anstand ja soviel hielt er darauf daß ihm der 
markenname des mobils als zusatz zu seinem eigenen anhing 
man wußte von zwei engelsgleichen kindern die dem vernehmen nach 
ferngehalten von jedem schmutz oder blauen fleck eingesperrt waren
in einem kindheitshimmel so wolkenlos wie kalt und mehr bewacht als
behütet von der väterlichen besessenheit den makel der eigenen herkunft
wenn schon nicht loszuwerden so doch mit ihrer lichtgestalt zu überdecken
sie entschädigten ihn für sich das war der zweck ihres daseins
nicht aber der ihrer mutter an deren tragödie man anteil nahm die schuld 
auch noch am geringsten versäumnis hatte welches er zu beanstanden 
fand und der ihr studium ihre ehe und ihr leben zerbrachen unter der 
bürde einen so unerträglichen mann ertragen zu müssen 
sie wirkte wie eine riesin neben ihrem gemahl jedoch war jeder ihrer 
körperteile anders proportioniert ein kleiner kopf mit straff anliegendem 
haar auf einem langen leichten oberkörper über einem schweren leib auf 
massigen schenkeln runden beinen und großen füßen ihr gang war fast 
bewegungslos und trug sie wie eine statue durchs leben 
anfangs mußte ihn das so sehr gereizt haben daß er nicht locker ließ bis sie
mit jedem stück von sich ihm auf eine andere weise angehörte später 
überließ sie die willenlose sich seiner willkür und er der hemmungslose 
unterzog sie seiner dressur 
ob und wie sie mit sich um ihre kinder gegen ihn gekämpft hatte 
niemand wußte es doch solch einen turm von weiblichkeit zum wanken 
aus dem gleichgewicht und zum einsturz zu bringen konnte nur das werk
eines zerstörers sein da waren sich alle einig
ihr träger werdender leib löste sich in pein und ihr schwermütiger geist
in tränen auf und irgendwann verschaffte eine überdosis schlaftabletten
ihr endlich die ersehnte erleichterung


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

J

rund plump tumb aber nicht fett gar ranzig nur aufgeschwemmt wie 
glibber di glabber zwischen sülze und pudding jedenfalls sehr weich 
doch wieder nicht weichlich gar weiblich eher ein mittelding vielleicht
zwischen triton und bacchant nur etwas nördlicher mehr bier als bock
manchmal sah er aus wie ein abgestandenes pils möglicherweis auch  
ein mischwesen aus phlegma und rausch mild freundlich rundum gut 
gelaunt ein beschwingter seilenos schwamm er im suff oder einfach nur 
der genius loci in seiner wahren gestalt also ein alt gewordenes träges
antriebsarmes kind 
leben wie beruf betrieb er als reine privatsache alles offiziell dienstliche 
hatte sein dasein längst abgestreift kein ehrgeiz trieb ihn um an seine 
gewohnheiten wie obliegenheiten verschwendete er keine energie 
der wissenschaft widmete er sich zum zeitvertreib seine bürgerlichkeit 
standesanspruch reputation sollten nicht wahrgenommen werden 
sondern unbelästigt bleiben wie jemand den es sowohl nie als auch 
schon immer gegeben hatte lebte er dahin im behäbigen gleichmaß
einer weltfernen idylle mit einer frau die sein feminines ebenbild war
und zwei kindern pausbäckig deftige wiederholungen der elterlichen 
vorlage man bewohnte eine separate suite im vorderen östlichen flügel
der klinik genoß unterkunft verpflegung bedienung wie selbstverständlich 
und verbrachte in einem eigens rückwärtig angelegten gärtchen seine
freie zeit in ereignisloser geselligkeit wie geselliger ereignislosigkeit 
das sah nach sanatorium aus und hatte etwas vom leben als heil und 
trinkkur und wer wünschte einem säufer nicht er möge sich gesund 
saufen aber bei näherem hinsehen stellte sich heraus daß die dinge doch 
anders lagen denn statt freiwillig lebte er gezwungenermaßen so 
mehr geduldet als gelitten verdankte er sein bleiberecht nicht eigener 
anstrengung sondern dem ruf und verdienst seines vaters der einst 
inhaber einer bedeutenden heilanstalt nach dem krieg enteignet und 
gestorben war der sohn auch beruflich ein waisenknabe war zwar mit 
empfehlungen versehen an die charité vermittelt worden aber sein 
lebenskahn hatte da nicht die karrieresegel gesetzt sondern war auf grund
gelaufen er saß nun schon seit längerem fest und noch irgendwohin 
zu gehen daran war ihm nichts gelegen er hätte nicht mal gewußt wohin
angesichts der mauer hätte er eine entscheidung treffen müssen seine 
frau eine westberliner schauspielerin und engagiert an einem theater
in ostberlin war freizügig er und die kinder waren es nicht doch die 
bequemlichkeit des gegebenen zustandes verschob alle entschlüsse 
von einem tag auf den nächsten 
wenn er überhaupt noch in der klinik erschien so reiste er zu diesem zweck
mit seinem zunehmend baufälligen hellblauen vw käfer die fünfzig schritte
von seinen gemächern bis vor das hauptportal und kehrte nach dienstschluß
auf die gleiche weise zurück nachdem seine frau gezwungenermaßen sich   
entschließen mußte nach ostberlin überzusiedeln verkamen er wie sie und 
äußerlich wie innerlich zum wrack geworden fielen beide im allgemeinen 
alimentierten ruin bald nicht mehr auf 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

L

aus radebeul bei dresden und eher ein pferd aber beileibe keine 
schindmähre eher ein arbeitstier eine gäulin weder rassig noch rossig
doch wer sie besaß ihr aufsaß sah sich auf dem hohen roß sitzen
genauer gesagt dem piedestal ihres hinterteils denn in der hauptsache
bestand sie aus diesem 
es beschwerte ihr wesen mit umständlichkeit und verlieh ihrem gang
etwas vierbeiniges der hohe schwung ihrer hüften bestimmte sie zum
galopp war der im flachen auch alles andere als gestreckt galt sie im 
schrägen besonders auf treppen als uneinholbar 
ihre hintere oder reittierhälfte legte es offenbar darauf an vor ihrem 
reiter am ziel zu sein was einem solchen ihrer vorderseite zu erblicken
zumindest sehr erschwert haben dürfte
in allen anderen bereichen vermischten sich das kalt und das 
warmblütige ihrer doppelnatur zu einem lauwarmen phlegma träg 
langsam und gleichgültig war außer ihrem allerwertesten an ihr nichts 
aus der ruhe zu bringen 
dieses fabelwesen befand sich in festen händen der direktor der klinik
selbst begehrte die zentaurin überfiel beide ein gelüst jagte die zügellose
voraus auf ihr zimmer und der gespornte atemlos hinterher nach der 
parforce schlichen sie sich in umgedrehter reihenfolge wieder davon
nur an ihren dienstfreien wochenenden war  L  zu keinem aufgalopp
zu bewegen da saß der stute die hausfrau auf der kruppe und gab sich 
ihrer zweiten leidenschaft hin dem ungebändigten großreinemachen 
als dem tugendhaftesten unter den lastern der weiblichkeit der 
sächsischen wenigstens 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017

M

kräftig nicht derb züchtig nicht streng rundlich nicht füllig mütterlich 
doch keine matrone glatt ihr haar nicht straff grau ihre augen nicht trüb 
im blick ein schimmer des mitleids in der stimme ein ton des schmerzes 
wolkenweiß und himmelblau war die gestreifte gestärkte gefaltete 
gebügelte frische ihrer schwesterntracht der zauber der reinheit ging von 
ihr aus an leib und seele schien sie gleicherweise in keuschheit gewandet
sie hätte eine äbtissin sein können 
die ihr verliehene macht übte sie aus ohne zu herrschen und waltete doch 
ihres amtes und bewirkte und vollbrachte trotzdem man fügte sich willig
ihren anordnungen ohne daß sie deshalb von ihren befugnissen gebrauch 
machen mußte weil man nichts vermocht hätte wider ihre sanftmut
selbst des fleisches naturbedingte hinfälligkeit oder unzulänglichkeit
verklärte sie auf ihre leise heilsame weise zu genesendem wohlbefinden
sicher war sie kein höheres wesen als die unterste unserer oberen war sie
uns eher um vieles näher aber sie war diejenige von denen über uns 
die sich nicht vor uns verbarg weshalb wir ihre erscheinung uns auch 
zu schauen getrauten 
indem wir uns unter ihre obhut begaben stellte sie uns unter das prinzip
welches sie verkörperte und lehrte denn wie war eine priesterin der 
hygieia und diente der göttin der gesundheit 


Thomas Körner: Drüben oder Erinnerungen an ein Tollhaus © Acta litterarum 2017